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besuchen darf, andeutend, daß ich dabei darauf rechne, daß er mir nicht die Leviten liest. Er hat nett geschrieben; beteuert, daß es gar nicht seine Natur sei, »schmutzige Wäsche« zu waschen (!!) und ich solle kommen. Mich freuts. Die Situation hatte mich doch gedrückt. Willst Du ihm nicht einmal ein Wort schreiben? Ihn an seinen schwachen Seiten fassend? Herzliche Grüße, lieber Joseph - auch an M. Bärtle. Dein Romano 147. Brief vom 15.12.1931, Berlin-Zehlendorf. B. 15.12.31 Lieber Joseph ich bin für eine Stunde aufgestanden und habe mich in den Sessel gesetzt.*966 Man wird recht wacklicht durch ein solches Ding; hätte es nicht geglaubt! Nun ists die vierte Woche, daß ich daran laboriere; die dritte im Bett. Ich hoffe, daß Ende dieser Woche die Sache soweit ist, daß ich ganz aufstehen kann. Das Gröbste ist, so Gott will, herum. Aber all die schöne Zeit, und meine armen Vorlesungen! Ich habe nicht viel profitiert in dieser Zeit. Am eindrucksvollsten war mir eine Begegnung mit dem letzten der französischen »Moralisten« vor der Revolution: Chamfort.*967 Ein gescheiter, scharfer, feinsinniger Geist, ohne alle Illusionen, und von einer Bitterkeit! Ich verstehe, daß Nietzsche entzückt war von ihm und seiner Art. Uneheliches Kind; richtiger gesagt, Sohn eines Praelaten; von unendlicher Genußkraft; begabt, ehrgeizig und lässig zugleich - arm, und mit noch nicht dreißig Jahren schwer syphilitisch erkrankt. Das schleppt er durch dreißig Jahre! Da soll nicht eine Menschenanschauung von bitterster, grimmigster Skepsis herauskommen! Als er tot war - während der Revolution; um dieser zu entgehen, hatte er den Versuch gemacht, sich zu töten: den Hals mit dem Rasiermesser; die Adern; als das nicht gelang, schoß er sich eine Kugel in den Kopf, die blieb drin, und er am Leben. Erst später starb er. Dann fand man einen Kasten, in den hatte er lauter Zettel 966 Die Beschreibung weist auf einen grippalen Infekt hin. 967 Nicolas Chamfort (6.4.1740, Clermont, bis 13.4.1794, Paris), Hauptwerk: Maximes, pensées, caractères et anecdotes, Paris 1795. | ||
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