Romano Guardini Online Konkordanz
Treffernummer:

 < Seite 142> 


ist es möglich, ihn auf eine bestimmte Lehre und Lebensregel festzulegen?
Ist das nicht Enge und Rechthaberei? Ist das nicht Gewalttätigkeit an einer Stelle, wo strengste Selbstbescheidung der eigenen Aussage und größte Ehrfurcht vor der Erfahrung des Anderen herrschen müßten?
Gott ist doch Jener, zu dem alle Völker Beziehung haben, und dem alle Zeiten gleichzeitig sind. Also muß ihn jedes Volk so aussprechen dürfen, wie es ihn empfindet, und damit recht haben. Jede Zeit muß ihr Bild vom Göttlichen aufstellen und, wenn sie es ehrlich meint, sagen dürfen, es sei wahr. Jeder Mensch ist Gott nahe, aber jeder Mensch ist verschieden. Also muß jeder sagen dürfen: So erlebe ich ihn, so fühle ich ihn, und so ist er für mich wirklich. Hier kann es keine bestimmte Wahrheit in dem Sinne geben, wie in irdischen Dingen, wo etwas so ist, wie Erfahrung und Wissenschaft es feststellen, und nicht anders; sondern religiöse Wahrheit gibt es unzählige Male, und sie besteht jeweils darin, wie Einer in Ehrlichkeit das Seinige fühlt und ausdrückt.
Falls man nicht noch weitergehen müßte und sagen: Wer verstanden hat, worum es geht, stellt Gottes Unbegreiflichkeit in den Mittelpunkt seines religiösen Denkens. Er verzichtet auf jede bestimmte Aussage, weil sie immer Anmaßung bedeutet, und bleibt in schweigender Ehrfurcht vor dem Unaussagbaren stehen.
Das ist eine schwere Frage, und sie scheint heute besonders dringlich, weil der Mensch so ganz aus Ordnung und Tradition herausgefallen ist. Trotz aller Wissenschaft und technischen Exaktheit ist er unsicher bis zum Sich-Fürchten. Trotz alles Verkehrs und aller Organisationen weiß er vor Einsamkeit nicht wohin.
Durch den Krieg ist er zu fremden Völkern gekommen und hat gesehen, daß sie anders sind und anders denken: Wer hat dann recht? Die Wissenschaft hat ihm gezeigt, wie vielfältig und tief sich im Laufe der Zeit die Anschauungen gewandelt

 < Seite 142>