Romano Guardini Online Konkordanz
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werde erst im Neuen Testament deutlich. Das ist aber nicht so. Was im Alten Bunde »Gerechtigkeit« heißt, würde etwa von einem Platon nicht verstanden werden, denn es ruht seinem Kern nach nicht auf der unmittelbaren Einsicht in das Wesen der Dinge, noch auf dem Ernst des zum Guten entschlossenen Gewissens, sondern auf einer Tat Gottes, nämlich dem Bundesschluß vom Sinai. So gehört es keiner Ethik an, die von diesem Geschehnis abgelöst und für sich verstanden werden könnte; alle »bloß ethischen« Beurteilungen des Alten Testaments sind abwegig.
Es ist vielmehr so: Gott führt da mit Menschen eine Geschichte, die sein Reich auf Erden aufbauen soll. Ein feierlicher Akt, die Bundesschließung am Berge Sinai, begründet die Existenz des Volkes, das dieses Reich tragen wird; Gerechtigkeit bedeutet da die Erfüllung dessen, was der Bundesschluß verlangt. Zuerst und grundlegender Weise meint sie Gottes eigenes Verhalten, der den Bund gewährt, sich in ihm verpflichtet hat und ihn hält. Dann, durch dieses göttliche Verhalten möglich gemacht, das des Menschen, der sich gebunden weiß, die Forderung des göttlichen Bundespartners zu erfüllen.
Das Gemeingültige aber, das ihr, wie jedem echten ethischen Verhalten, eignet, liegt im All-Herrentum Gottes, der zwar die Verwirklichung seines Reiches mit diesem Volke und in diesem Lande begonnen hat, es aber dann - wie die Prophetie nicht müde wird, zu verkünden - durch alle Völker, über die ganze Erde, ja in die Schöpfung überhaupt ausbreiten will. So meint die Gerechtigkeit des Alten Testamentes eine, von Gottes Bundesgnade geforderte, aber auch möglich gemachte Lebensführung. Sie besteht in der Geschichtslenkung Gottes, die das »Reich« baut, und der Bereitschaft des Menschen, sich in diese einzuordnen. Ihre Forderung wird durch das »Gesetz« auf die Mannigfaltigkeit der Lebensaufgaben bezogen und entwickelt, und begegnet hier der unmittelbarethischen, aus dem Wesen der Dinge sich ergebenden Gerechtigkeit, wodurch diese eine neue Bestimmung erfährt.

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