Romano Guardini Online Konkordanz
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besonderen Rhythmus. Die Bewegung der Blätter, der Stengel und Blüten, war nach Zeitmaß und Form etwas Eigenes und bestimmte die Pflanze ebenso genau wie das Gebaren eines Tieres dessen Art bestimmt. Diese Bewegung war aber anders als die des Tieres. Erst war man geneigt, sie an der Tierbewegung zu messen; dann bemerkte man ihre eigentümliche Gebundenheit. In ihnen offenbarte sich kein in den Raum freigegebenes Dasein, sondern sie blieben ganz an das Wachstum geknüpft.
Diese Pflanzenwesen sah ich werden; Stengel, Blätter, Knospen hervortreiben und blühen; einen Höhepunkt erreichen, absinken und sterben, und es war ein wirklicher Tod. So gewann ich die Anschauung eines ganz neuartigen Lebens. Das vollzieht sich immerfort um uns her, aber unmerklich langsam; darum kommt es uns oft gar nicht als Leben zu Bewußtsein. Der Eindruck der Lebendigkeit, den wir etwa von einem Baume empfangen, stammt nicht aus seiner eigenen Bewegung, sondern jener, welche die Luft seinen Zweigen mitteilt. Erst durch tiefere Einfühlung gelangen wir dazu, das Leben der regungslos dastehenden Pflanze zu empfinden. Hier aber war die Lebensbewegung selbst sichtbar gemacht; so näherte ihre Ausdrucksweise sich der unseres eigenen Daseins, das sich in rascherem Zeitmaß vollzieht. Dennoch blieb die Fremdheit, und ich hatte die Erfahrung einer von der unseren ganz verschiedenen Lebendigkeit.

Der stärkste Eindruck aber kam aus der Art dieser Bewegungen. Es waren Wachstumsbewegungen, triebhaft organisch - und mit einem Male überkam mich das Gefühl einer großen Schamlosigkeit ... Man sagt, die Natur sei »unschuldig«, - ist das wahr? Was heißt hier überhaupt »unschuldig«? Lassen wir dahingestellt, ob es einen Sinn hat, vor Wasser und Pflanze und Tier von Schuld oder Unschuld zu reden. Wenn man aber, wie Rousseau und viele nach ihm, sagt, die Natur sei unschuldig, dann soll das jedenfalls heißen, sie sei eine Region der Unschuld für mich; ich sei schuldlos, soweit ich

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