Romano Guardini Online Konkordanz
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Und noch eins gefällt mir an dem Buch besonders. Sie ist ganz übernatürlich; lebt ganz in der Religion, und dabei ist nichts Verbildetes in ihr, sondern ein feiner, weiter Geist, allem Edlen weit aufgeschlossen, und so voller Liebe für die Ihren.
10. X.
Nun hab ich noch ganz das Danken vergessen. Aber das weißt Du ja, und Dein Mütterlein auch, daß ich von Herzen danke für alle Güte. Ich denke so oft an Wangen zurück*251, und gar oft, wenn mir etwas Schönes vor die Augen kommt, dann denke ich unwillkürlich, - das wäre etwas für sie.
Ich glaube, daß erst diesmal mir der eigentliche Schlüssel zu Deinem geistigen Leben gegeben wurde - oder wenigstens ein wichtiger Beitrag. Besonders Dein Verhältnis zu Welt und Menschen ist mir viel klarer geworden. Und das hat mir wieder einen Aufschluß für die Erkenntnis des schöpferischen Menschen gegeben, besonders der religiös-ethischen Schöpferkraft. Der Blick ist auf das Wesentliche eingestellt, auf die großen Lebensrealitäten von Sollen, Dürfen, Verlangen, Leid, Glück, Seele, Gott ... Und zwar ists nicht ein äußerliches Einsehen, sondern ein Verstehen aus tiefinnerer Verwandtschaft, innerem Zusammenhang mit jener Welt des Tiefen, Eigentlichen. Dies Verstehen ist einfach, stark, voll, ungebrochen, schlicht: ist Kinderwissen, so wie das Kind mit der ganzen, unzersplitterten, ungeschwächten Seele hört, schaut und lebt. Und zugleich scheint mir mit diesem Wissen ein liebevolles Verständnis für die individuelle Wirklichkeit und all ihre Not verbunden zu sein, ein Ohr für die Stimme des wirklichen Lebens in seinen tausend Gestaltungen und Verkettungen. Aus jenem Wissen heraus tritt nun dieser Geist an die so erfaßte Wirklichkeit heran; jene tiefe Einsicht macht es ihm möglich, sie mit jener souveränen vom Einzelnen unbeirrten Sicherheit zu beurteilen und jener nie nachgebenden Kraft zu meistem, die das schöpferische Handeln ausmacht. Zugleich aber bewahrt ihn die Fühlung mit dem wirklichen Einzelleben davor, es zu vergewaltigen, lehrt ihn die sichere, feinfühlige maßvolle Realistik, die ebenso zum Schöpferischen gehört wie jener Tiefenblick.
Realist ist er, und doch wieder nicht. Außer dieser Welt des eigentlichen Lebens, das zwischen den Polen der allgemeinen großen geistigen Mächte und der wirklichen Einzelerscheinung spielt, gibt es noch eine andere. Die kommt nicht notwendig aus dem Wesen der Dinge, sondern
251 Guardini war im September 1913 in Wangen gewesen; Josef Weiger widmete ihm dort das Buch von Adolf Deissmann, Paulus. Eine kultur- und religionsgeschicht­liche Skizze, Tübingen 1911 (BM): »Zur Erinnerung an den lieben Besuch im Herbst 1913 Josef. Wangen, den 4. Oktober 13.«

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