Romano Guardini Online Konkordanz
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kommt. Ein Mensch, der in seinem lebendigen Sein Bedingungen mitbringt, die von vornherein über die Allgemeinheit hinausragen; der durch Erziehung und Schicksal in besonderer Weise entwickelt worden ist; der in tiefen Auseinandersetzungen und ungewöhnlichem inneren Erfahren zu neuen Erkenntnissen durchbricht, von noch ungesehenen Werten berührt wird, Ziele und Möglichkeiten erschaut, die bisher zugedeckt waren - ein Solcher kann von der Allgemeinheit nicht ohne weiteres aufgenommen werden. Er wird im günstigsten Fall mit Respekt umgeben, aber einsam seinen Weg gehen. Im ungünstigen wird er Mißtrauen oder Feindseligkeit finden. Später freilich, wenn er seinen Kampf durchgekämpft hat, vielleicht untergegangen ist, wird er mitsamt dem Seinigen von den Menschen aufgenommen. Und dann erscheint er als der vorlaufende Bote dessen, was nachher in irgendeiner Weise Gemeingut aller wird.
Nicht so steht es mit Jesus. Mit diesem Verhältnis, das in der Geschichte immer wiederkehrt, können wir sein Schicksal nicht denken. Er war nicht bloß ein Großer, der von seiner Zeit noch nicht verstanden wurde. Da liegt etwas Tieferes.
Bedenken wir nur dieses: Jesus war Jude. Er kam aus dem edelsten Blut seines Volkes; aus der Königslinie. Er war ganz im Leben dieses Volkes verwurzelt. Nicht unrichtig hat man gesagt, noch immer werde Er, was seine unmittelbare Menschlichkeit angeht, am richtigsten von Juden erfaßt.
Tief steht er in der Tradition seines Volkes. Dessen ganze Geschichte lebt in Ihm. Er weiß sich jenem heiligen Geschehen tief verpflichtet. Er, so gewaltig durchdrungen von seiner gottunmittelbaren Sendung, sagt: "Ich bin nicht gekommen, das Gesetz aufzulösen, sondern es zu erfüllen" (Mt 5,17). Kein Buchstabe, "kein Strichlein" vom Gesetz darf zerstört werden; alles muß Erfüllung finden.
Mehr als das: Er weiß sich mit dem Sinne seines Daseins und seiner Sendung von jener heiligen Vergangenheit getragen: "Ihr forschet in den Schriften, denn ihr glaubt, darin ewiges Leben

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