Romano Guardini Online Konkordanz
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wenn er vorher zurückgibt, was er geraubt hat. Hier gilt jenes Wort des Neuen Testamentes, das den Schlüssel aller Daseinsfragen bildet: „Wer seine Seele festzuhalten sucht, wird sie verlieren; wer sie aber hergibt, wird sie gewinnen.“ (Lk 17,33) Der Mensch kann – geheimnisvolles Gesetz seines Wesens – sich nur finden, wenn er sich zuerst Dem gibt, dem er mehr gehört als sich selbst.
Was der angedeutet wurde, ist zunächst außerhalb der Kirche geschehen. Nie kann ja die Gültigkeit der Verheißung aufgehoben werden, die Macht des Irrtums werde ihr nicht ins Herz dringen (Mt 16,18). Irrtümer der Zeit können aber die Haltung der Gläubigen beeinflussen, und sie haben es getan. Der Christ hat Gott den Gehorsam nicht aufgesagt; wohl aber hat er weithin aus dem Lebendigen Gott, der sich in der Offenbarung kund getan hat, den abstrakten „Gott der Philosophen“, das „absolute Wesen“ der Metaphysik werden lassen. Er hat nicht erklärt, sein eigenes Urteil sei allein für ihn verpflichtend; wohl aber hat er weithin aus dem Gott, der in der Geschichte handelt und ihn in dieses Handeln hineinruft; dessen Vorsehung ihm in der „Stunde“ entgegentritt und ihn auffordert, sie zu meistern, eine abstrakte ethische Ordnung gemacht, deren Regeln jeweils auf den Fall angewendet werden.
Im Maße das geschehen ist, hat er von der Fülle und Einheit seines Wesens verloren, denn beides steht in unlöslichem Zusammenhang. Genau so viel ist der Mensch jenes Geschöpf, das Gott gewollt hat, als er in seinem Leben Gott Den sein läßt, der Er ist.
So hat das christliche Denken die Aufgabe, wieder zu der lebendigen Ordnung durchzudringen, die sich in der Offenbarung kund tut. Da ist Gott am Werk, seine „Großtaten zu vollbringen“; Geschichte zu wirken auf das hin, was kommen soll. Glauben aber heißt, sich diesem Gott verpflichten; im konkreten Geschehnis Seinen Willen zu erkennen und ihn zu tun, so gut man kann.

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