Romano Guardini Online Konkordanz
Treffernummer:

 < Seite 388> 


202.
Brief vom 29.09.1953, München.
München 29.9.53
Lieber Josef,
gestern früh sollte ich nach Italien fahren, da bekam ich einen Rückfall meiner Kiefer- und Stirnhöhlensache vom vergangenen Jahr, und mußte bleiben. Hoffentlich macht sie sich bald, daß ich nicht zu viel Zeit verliere.
Im September habe ich mich ganz gut erholt - aber man merkt es doch, daß die Jahre der raschen Wieder-Herstellungsfähigkeit vorbei sind. Also muß man sich bescheiden und seine Möglichkeiten zu Rate halten.
Ende vergangener Woche habe ich endlich die Arbeit an meinem Rilkebuch abgeschlossen.*1168 Es wird einen Band von etwa 420 Seiten geben. Eine genaue Interpretation des Elegientextes; dazwischen immer wieder zusammenfassende Analysen, und endlich eine energische Stellungnahme zu Rilkes Gedankenwelt. Ich bin auf einige Empörung gefaßt; besonders bei solchen, die jede Kritik von christlicher Seite an einem rezipierten Dichter als Majestätsbeleidigung auffassen. Aber das kann man dann nicht ändern. (Durch 17 Jahre ist die Arbeit gegangen!)*1169
Draußen ist Herbstwetter, aber häßliches. Es wäre schön, wenn ich drunten noch einige freundliche Tage haben könnte.
Mutter ist jetzt 91 Jahre alt. Über die biblische Grenze hinaus. Nicht fröhlich, zu denken, daß sie da drunten in dem großen Haus lebt, nur mit Mario, ganz schweigend alles.
Verzeih, ich bin ein bischen melancholisch.
Ich hoffe, es geht Dir gut? Du hast sicher viel im Garten sein können in den schönen Septembertagen.
Alle guten Dinge, lieber Josef! Bleib gesund, und möge die Theologie Dir ihre schönen Seiten zeigen!
Romano.


1168 Rainer Maria Rilkes Deutung des Daseins. Eine Interpretation der Duineser Elegien. Meiner Mutter zum 91. Geburtstag, München (Kösel) 1953, 425 S. (M 916).
1169 Guardini veröffentlichte insgesamt 12 meist kürzere Arbeiten über Rilke; die erste erschien 1938: Zu Rainer Maria Rilkes Erster Elegie, in: SchG 17 (1938), 170 (M 511).

 < Seite 388>