Romano Guardini Online Konkordanz
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um ein solcher zu sein, auch nach »Unten« hin erstrecken, Fundament, Verborgenheit, Abgründigkeit haben muß. In einer außerwissenschaftlichen Weise wußte man auch davon; wir brauchen bloß an die Welt der Dichtung oder der Religion zu denken. In der wissenschaftlichen Vorstellung aber fehlte das Moment der Tiefe. Sie sah die psychologischen Strukturen und Vorgänge, ihre Schichtungen und Komplikationen; alles aber blieb, wenn das Bild erlaubt ist, über der Erde, blieb Oberbau. Von dem darunter Liegenden fehlte ein deutlicher Begriff - auszunehmen ist vielleicht die romantische Psychologie, die auch hier kommende Dinge gesehen oder doch geahnt haben mag.
Durch die Freud'schen Theorien wurde der Mensch zu einem Kosmos, der sich nicht nur in die Breite und Höhe des Bewußten, sondern auch in die Tiefe des Nicht-Bewußten erstreckt. Sein Bild wurde vollständiger nach unten bzw. innen hin.
Das bedeutete aber nicht nur eine Ergänzung, sondern auch eine Veränderung des oberen Bereiches, denn es verschob die Gewichtsverhältnisse des Ganzen. Bis dahin war der Charakter psychologischer Relevanz eng mit dem der Gewußtheit bzw. unmittelbaren Wißbarkeit verbunden; nun wurde deutlich, daß es seelische Realitäten gibt, die nicht direkt erreichbar und doch von großer, ja unter Umständen entscheidender Bedeutung sind. Daß das unmittelbar zugängliche Innenleben, von dem man der Meinung gewesen, es vollziehe sich aus sich selbst, diese Autarkie in Wahrheit nicht besitzt, sondern durch Momente beeinflußt wird, die im nicht einfachhin Zugänglichen liegen.
Freud fand auch einen Weg in diese Tiefe. Sie war nun nicht mehr nur der Ahnung des in wacher Weise Lebenden oder der Intuition des blickmächtigen Dichters überlassen, sondern es wurde möglich, sie in wissenschaftlich verantwortlicher Methode aufzuschließen. Und zwar erkannte er, daß sie über Vorgänge erreicht werden kann, die man bis dahin als Unwesentlichkeiten des Seelischen angesehen hatte, nämlich

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