Romano Guardini Online Konkordanz
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Bleiben wir bei dem Gebiet, das den Philosophen besonders angeht, beim Erkennen - wie ist es möglich, daß Menschen über die Dinge des gemeinsamen Daseins wider einander denken? Es ist doch die gleiche Wirklichkeit, über die sie denken; ihr Geist ist letztlich von der gleichen Logik regiert und in ihnen - das ist allerdings zögernder gesagt - lebt doch der gleiche Wille zur Wahrheit!
Vielleicht klingt die Frage töricht. Gegenwart wie Vergangenheit sind so tief vom Kampf bestimmt, daß unser Gefühl sich darin eingerichtet hat und ihn als »normal« empfindet. Es ist aber gut, hin und wieder den Schein des Normalen abzustreifen; dann zeigen sich die Dinge in ihrer Erstaunlichkeit.
Wie kann also das Denken des Einen dem des Anderen zuwiderlaufen? Der Grund ist der gleiche, aus dem auch die Größe des Verhältnisses hervorgeht; nämlich die Freiheit.
Der Naturalismus findet den Zustand selbstverständlich. Es sei der gleiche, der überall in der Natur herrsche: der Kampf aller gegen alle. Aber unter den Tieren herrscht durchaus nicht der Kampf aller gegen alle, sondern da bestehen genaue Zu-Ordnungen. Sobald diese nicht wirksam werden, laufen die Tiere in den Gefügen ihrer Lebensvorgänge und stören einander nicht. Die Möglichkeit eines freiwaltenden, man möchte fast sagen, absoluten Kampfes öffnet sich erst beim Menschen; und es ist ein Zeichen großer Phänomenblindheit, ihn mit dem zu verwechseln, was im Tierreich vor sich geht.
Der Mensch steht unter Beeinflussungen verschiedenster Art und Mächtigkeit; es gehört aber zu seinem Wesen, daß er aus den naturhaften Zusammenhängen heraustreten, Distanz nehmen und von da aus den Gegenstand - das Ding wie auch sich selbst - betrachten, verstehen, beurteilen kann.

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