Romano Guardini Online Konkordanz
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wäre für jeden Anlaß genug, sich zu fragen, was für ihn in dessen Verlauf geschehen sei: Geburt, Begegnung und Tod, Freude, Leid, Gewinn und Verlust. Und ebenso, was er mit der Zeit angefangen habe: Recht oder Unrecht getan, Liebe oder Haß gegeben, Leben aufgebaut oder vergeudet oder zerstört ... Von solcher Besinnung ist aber, nach dem allgemeinen Eindruck zu urteilen, nicht viel die Rede. Was den Tag - sagen wir genauer, seinen Beginn in der vorausgehenden Nacht - erfüllt, ist ausgelassener Trubel; und der Tag selbst trägt den Charakter, der den Nachhall jeder Ausgelassenheit bildet, nämlich Mißmut und Überdruß.
Fühlen wir aber genauer hinein, so merken wir, daß unter der Ausgelassenheit etwas anderes gelegen hat, nämlich Angst. Das mag sonderbar klingen, aber es ist so: In der vergangenen Nacht haben die Menschen im Grunde Angst gehabt, nämlich vor dem Enden, und die haben sie mit Spektakel zugedeckt. Neujahr ist der Tag der Vergänglichkeit. Einer aber, die von keinem Geheimnis durchwaltet ist, weder des natürlichen noch des religiösen Lebens, sondern nackter Vergänglichkeit: ein Jahr aus - ein neues an! Etwas Trostloses redet aus dem Tag.
Mit dem Vergehen haben wir es allezeit zu tun; unser Leben vollzieht sich ja darin. Immerfort geht etwas zu Ende: eine Stunde, ein Tag. Immer wieder sagt der Samstag, die Woche sei vorüber. Wie lang wird es dauern, und das Jahr, das heute beginnt, rinnt aus? Ist es nicht, als sei letztes Neujahr gerade erst gewesen,

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