Romano Guardini Online Konkordanz
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Was meint es also? Es meint, daß jeweils die Motive, die Kräfte, das Handeln und Sein des Menschen von einem bestimmenden sittlichen Wert, einer ethischen Dominante sozusagen, zu einem charakteristischen Ganzen zusammengefaßt werden.
Wählen wir als Beispiel eine sehr schlichte Tugend, die Ordnung. Sie bedeutet, daß der Mensch weiß, wo eine Sache hingehört, und wann es für ein Tun Zeit ist; welches Maß jeweils gilt, und in welchem Verhältnis die verschiedenen Dinge des Lebens zu einander stehen. Sie bedeutet den Sinn für Regel und Wiederkehr und das Gefühl dafür, was sein muß, damit ein Zustand oder eine Einrichtung Dauer haben. Wenn die Ordnung zur Tugend wird, dann will der, der sie übt, sie nicht bloß in einer einzelnen Entscheidung verwirklichen - etwa wenn er arbeiten soll, und statt dessen etwas anderes treiben möchte, sich aber zusammennimmt und tut, was jetzt an der Zeit ist -, sondern als Haltung des ganzen Lebens; als eine Gesinnung, die sich überall zur Geltung bringt; die nicht nur sein persönliches Tun, sondern auch seine Umgebung bestimmt, so daß seine ganze Umwelt etwas Klares und Zuverlässiges bekommt.
Die Tugend der Ordnung muß aber, damit sie lebendig sei, auch die anderen Tugenden berühren. Damit ein Leben in der rechten Weise geordnet sei, darf diese Ordnung nicht zu einem Joch werden, das lastet und zwängt, sondern muß zum Wachstum helfen; so gehört zu ihr das Bewußtsein, was Leben hemmt, und was es möglich macht. Also ist eine Persönlichkeit richtig geordnet, wenn sie Energie hat und sich überwinden kann, aber auch, wenn sie fähig ist, eine Regel zu durchbrechen, wo es nötig wird, damit sie nicht einenge - und mehr derart.
Eine echte Tugend bedeutet einen Durchblick durch die ganze Existenz des Menschen. In ihr wird, wie gesagt, ein ethischer Wert zur Dominante, welche die lebendige Fülle der Persönlichkeit zusammenfaßt.

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