Romano Guardini Online Konkordanz
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als er diese Erkenntnis und diese Fertigkeit noch nicht hatte. Sobald ich die Natur einer Krankheit verstehe und das Mittel zu ihrer Überwindung finde, bin ich in einem grundsätzlichen Sinne ihr gegenüber frei geworden. Sobald ich imstande bin, durch exakte Erforschung und präzise Apparaturen eine neue Energie zu gewinnen, ob sie nun die des Dampfes oder der Elektrizität oder der Kernenergie ist, werde ich von Bindungen frei, die mir aus der Unzulänglichkeit oder dem Mangel von vorher bekannten Energiequellen erwachsen sind.
Das ist die eine Seite des Sachverhalts. Die andere Seite ist aber, daß das, was mich gebunden, mich zugleich gesichert hat. Solange ich nicht imstande bin, durch entsprechende Apparaturen die Expansionskraft des Dampfes in meine Gewalt zu bekommen, bin ich vor den explosiven Wirkungen eben dieses Dampfes gesichert. So ist jeder Schritt, den menschliche Erkenntnis und Erfindungskraft tut, ein Schritt in die Freiheit und ebendamit ein solcher in größere Gefährdung. In gewisser Beziehung realisiert sich dadurch das Wesen des Menschen, wie es durch die Tatsache seiner Geistigkeit bestimmt ist. Das Tier ist ganz in seine jeweilige Umwelt hineingebunden. Allgemeiner gesprochen: es ist in die Natur hin[ein]gebunden, da es mit keinem Element seines Seins sich aus ihr lösen kann; da es keinen Standort hat, von dem aus es diese universelle Bindung überschreiten kann. Zum Wesen des Menschen gehört die Tatsache, daß ihm ein solcher Standort zugänglich ist, weil er in sich das Element des Geistes trägt. Das realisiert sich in jeder echten Erkenntnis ebenso wie in jeder echten Gestaltung. Immerfort schreitet der Mensch über die Gebundenheit durch die Natur hinaus. Dieses Hinausschreiten heißt Kultur.
Bis zu einem gewissen Punkt kann man von einer Art Gleichgewicht zwischen der Gebundenheit durch bestehende Einfügung in die Natur auf der einen Seite, der Freiheit durch bereits errungene Bewegungsmöglichkeiten auf der anderen Seite sprechen. Solange das der Fall ist, hat die Kultur den Charakter einer gewissen Harmonie, die wir human nennen. Der Mensch lebt dann einerseits in einem reichen, sicheren und Ruhe gebenden

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