Romano Guardini Online Konkordanz
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Ich glaube aber, sie täuscht sich. Fragen wir ganz nüchtern: der »natürliche Mensch«, von welchem da die Rede ist - wie verhält er sich in Wahrheit?
In Wahrheit empfindet das ursprüngliche Gefühl die Entbehrung, die Schmerzen, die Gefährdung des Anderen durchaus nicht so, daß daraus ohne weiteres der Antrieb käme, zu ihm zu gehen, ihm beizustehen, ihm herauszuhelfen, sondern es scheut davor zurück. Es empfindet die fremde Not als Störung des eigenen Wohlbefindens; als Anspruch an den eigenen Geldbeutel; als Forderung, sich anstrengen zu sollen. Ein entschiedener Blick ins eigene Innere sieht das. Und auch der größte Idealist muß es sehen, sobald er in die Lage kommt, andere um Mitarbeit oder geldliche Förderung in irgendeiner Not bitten zu müssen. Miene und Wort der Angesprochenen lehren ihn sehr bittere Wahrheit.
Die Wurzeln dieser Haltung liegen aber noch tiefer. Blicken wir in frühe Kulturen, dann sehen wir, wie die Bedrängnis des Anderen meistens als etwas empfunden wird, das dem eigenen Wohlsein feindlich ist. Wir werden an das Verhalten jener Tiere erinnert, die in Gemeinschaften leben: sobald in einem Bienenstock oder einem Ameisenbau ein Glied erkrankt, wird es durchaus nicht gepflegt, sondern getötet. Der Trieb, den man mit solcher Zuversicht das »natürliche Gefühl« nennt, antwortet im Menschen auf die Not des Anderen ursprünglich in sehr ähnlicher Weise - aber man muß sagen, noch schlimmer, da beim Menschen jede Regung einen besonderen Charakter annimmt. Das gefährdete Wesen drüben soll weg, damit es nicht auch die anderen in Gefahr bringe.
Doch die Frage nach Wie und Warum führt noch einmal tiefer. In frühen Zeiten ist alles Geschehen von religiösen Empfindungen durchsetzt. Damit wird nichts Christliches gemeint; nichts, was mit der biblischen Gottesbotschaft zusammenhinge; vielmehr ein unmittelbares Gefühl für das Geheimnis in allem Seienden. In allem Geschehen werden Mächte erfahren, wohltätige oder zerstörende. Der

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