![]() | Treffernummer: |
| < | Seite 136 | > |
Vorgestern kam ich im Gespräch mit einem stud. jur., einem sehr tüchtigen Menschen, Protestanten, auf Religiöses. Da formulierte sich ein Gedanke, der schon lange drinnen gewartet hat. Hör einmal zu. Der Mensch verlangt nach Wahrheit, Schönheit, nützlichem Schaffen; tiefer liegt das Verlangen nach dem Wertvoll-sein, Gutsein (Platos Eros), am allertiefsten aber das Elementarbedürfnis des endlichen Wesens, nach Wirklichkeit, d. h. nach Sinn und Sein. Aus diesem Bewußtsein heraus, in sich selbst die Wirklichkeit nicht zu haben, vollbringt die Seele den Akt elementarster Notwehr gegen das Nichts, gegen den Un-sinn: es bejaht »den Wirklichen«, der allein sagen kann »Ich bin, der ich bin«*343, der Sein und Sinn schlechthin ist, Gott, und wirft sich ihm in die Arme. Das ist die Wurzel des Lebens. Mir ist, als sei das nicht Religion, sondern ihre Voraussetzung, der actus ontologicus des endlichen Geistes. Aus ihm entspringen dann: Erkenntnis, Sittlichkeit, Leben und Religion, welch letztere ich fassen möchte, als das lebendige Bewußtsein vom Einzig-Wirklichen, der mir gehört, und dem ich gehöre, als den lebendigen Verkehr der ganzen Seele mit ihm; ja, wie Du es sagtest: »Gott im Herzen und das Herz bei Gott«. Sag mir bitte was Du denkst. Weißt Du, der Gedanke der Wirklichkeit (den durch Wort und Dasein Du mir gegeben hast) wird mir immer wichtiger. Ich glaube, daß mir das »bloße« Denken eines Tages zum praktischen Problem werden wird. Mein Denken ist vielleicht radikaler »gedanklich« als das eines richtigen Logikers vom Schlage Karls*344. Ich werde darum sein Problem eher zu fühlen bekommen. Mir wirds immer klarer, - welche Gunst der Vorsehung es war, die mich mit Dir zusammenführte. Ich meine, nur ein Mensch wie Du konnte den Bann des Gedankens in mir durchbrechen, ohne daß ich dadurch in sein Gegenextrem, die platte philiströse Alltagsrealität verfiel; konnte mich allein zur »Wirklichkeit« führen, jener Einheit von Wesentlichem und Tatsächlichem, deren Erlebnis der Ausgangspunkt alles echten Denkens und alles echten Lebens ist. Das Wesentliche und das Tatsächliche, die notwendigen Ideen und die realen Formen ihres Hervortretens, »die Sterne und die Gassen« sagt Raabe -, und daneben das Zerrbild der Wirklichkeit: Konvention und Schein. Ich fürchte, ich wäre letzterem verfallen ohne Dich, denn es ist der Gegenpol zum sog. reinen, bloßen, zum isolierten Denken. - Nun etwas anderes, Schönes. Hast Du von dem Bibelwerk des Berliner Textkritikers H. v. Soden gehört?*345 Sein Plan war, durch eine 343 Ex 2,14. 344 Karl Neundörfer. 345 Hermann von Soden, Griechisches Neues Testament. Text mit kurzem Apparat, Göttingen 1913. | ||
| < | Seite 136 | > |