Romano Guardini Online Konkordanz
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Wer ist ein Gentleman?
Ein Brief
[1956]

Lieber Freund,
erinnerst Du Dich noch an unser Gespräch vor einigen Wochen, nach dem politischen Radiovortrag von – ich weiß nicht mehr, wie der Mann hieß? Du warst zu der Zeit in George Meredith’ Roman „Der Egoist“ vertieft. Die Art, wie darin der Begriff des „Gentleman“ gebraucht wurde, hatte großen Eindruck auf Dich gemacht; und nachdem wir den Schreier im Rundfunk abgestellt hatten, sagtest Du, wie viel es doch bedeute, wenn es ein solches Maßbild gebe. Es wirke als selbstverständliche Orientierung sinngemäßen Lebens, und unzählige Schwierigkeiten, die sonst das Dasein plagten, lösten sich von ihm her – falls sie überhaupt entstünden.
Damals fragtest Du, ob es diesen Maßbegriff noch gebe. Und nicht unter Leuten, die unter dem Einfluß besonderer Familientraditionen stünden, oder sich sehr günstiger Verhältnisse erfreuten, sondern unter solchen, die lebten, wie eben alle. Wir waren uns bald darüber klar, daß es ihn eigentlich geben müßte, aus der Logik des Lebens selbst heraus – aber worin bestand sein Wesen? Das Bild des Romans hatte offenbar zu einer Gesellschaftsverfassung gehört, die zerfallen war – wie müßte man es aber heute bestimmen?
An dem Abend kamen wir zu keinem Ergebnis. Der Unterschied zwischen unserer Zeit und jener, die in so gesichertem Wohlstand und so festen Traditionen gelebt hatte, schien zu groß – aber in romantischer Weise etwas Vergangenes auf unsere Gegenwart aufzusetzen, war unmöglich. Man würde ein sonderbares Gefühl haben, wenn man in unserer Zeit der voranstürzenden Technik und sozialen Umwälzungen – die vergangenen

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