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Vom Wesen der Tugend In diesen Überlegungen soll von etwas die Rede sein, das uns alle angeht, jeden in seiner Weise, nämlich von der Tugend. Das Wort berührt uns wahrscheinlich zunächst fremd, vielleicht sogar unsympathisch; es klingt leicht altmodisch und »moralisch«. Vor vierzig Jahren hat der Philosoph Max Scheler einen Aufsatz geschrieben, der den Titel trägt: »Zur Rehabilitierung der Tugend« *1. Ein wenig seltsam, aber verständlich, wenn man bedenkt, daß damals die Ethik, die unter der Herrschaft Kants zu einer Pflichtlehre verdorrt war, sich lockerte, und man begann, das Gute wieder als etwas Lebendiges zu verstehen, das den ganzen Menschen angeht. In jener Situation wies Scheler auf den Wandel hin, den Wort und Begriff »Tugend« im Lauf der Geschichte erfahren haben, bis sie den kümmerlichen Charakter annahmen, der ihnen noch immer anhaftet. So war für die Griechen Tugend, areté, die Wesensart des edel gearteten und wohlgebildeten Menschen; für die Römer bedeutete virtus die Festigkeit, mit welcher der vornehme Mann in Staat und Leben stand; das Mittelalter verstand unter tugent die Art des ritterlichen Menschen. Allmählich wurde diese Tugend aber brav und nützlich, bis sie den sonderbaren Klang bekam, bei dem sich im natürlich gewachsenen Menschen innerlich etwas zusammenzieht. Wenn unsere Sprache ein anderes Wort hätte, würden wir es nehmen. Sie hat aber nur dieses; so wollen wir uns zu allem Anfang darüber einig sein, daß es etwas Lebendiges und Schönes bedeutet. *1 »Vom Umsturz der Werte«, Gesammelte Werke Bd. III, S. 13 ff (Bern 1955) | ||
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