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203.
Brief vom 15.10.1953, Isola Vicentina.
Isola Vicentina
15.10.53
Lieber Josef,
ich bin seit einigen Tagen in Isola; d.h. gestern waren es ihrer acht. Bei dem ruhigen Gleichmaß meines Lebens hier gehen sie rasch vorbei.
Hier hat es endlos geregnet. Das hat aber gemacht, daß alles Grün noch frisch ist, während es sonst nach dem Sommer welk, und das Gras braun gedörrt ist. Besonders die Bäume sind schön. Mich trifft solch ein Baumwesen immer wieder so nah und geheimnisvoll zugleich. Versteht man nicht gut, daß das Weltdasein als Baum gedacht worden ist? Die Wurzeln im Erdengrund, der Stamm ein Ur=Bild des Aufsteigens und Stehens, das Geäst die Raumgestalt herausgreifend? Wir haben hier wunderbare Deodarzedern, viel mächtiger als Tannen; die unteren Zweige gehen ganz herab und liegen fast auf dem Boden auf, so daß die Gesamtgestalt wie eine Pyramide ist. Die Baum=Magnolien, deren schwere Blätter wie aus Leder sind und im Winter nicht abfallen, sind groß wie mittlere Buchen. Dann sind die Pinien da, mit sehr hohen, glatten, freistehenden Stämmen. Eine Blutbuche ist wie die, von der Mörikes Gedicht erzählt. Und die Libanonzedern - ihrer zwei - sind richtige Majestäten.. Hoffentlich langweile ich Dich nicht. Mir stehen die Bäume merkwürdig nah.*1170
Hier bin ich daran, die Disposition für das Winter-Ethikkolleg*1171 zu machen. Josef, wenn das gelingt, dann ist es, glaube ich, etwas ­Nütz­liches. Ich möchte nämlich das übliche System ganz verlassen und christliche Lebenslehre aus dem Heilsgeschehen aufbauen. Als die Weise, wie der Gang der magnalia Dei*1172 sich an die Freiheit wendet, und den Menschen ruft, es durch sein Mithandeln - sofern es an ihm liegt - möglich bzw. wirklich werden zu lassen. Wie gern hätte ich oft mit Dir gesprochen. Ich meine, diese Art würde Dir gefallen. -

1170 Vgl.: Die Bäume von Isola Vicentina. Aus der Dankesrede nach der Verleihung der Ehrenbürgerschaft in Isola Vicentina am 12. Oktober 1963, in: Stationen und Rückblicke, Würzburg (Werkbund) 1965 (M 1651).
1171 Vorlesungsankündigung WS 1953/54: Ethos des Christentums, Mittwoch 18-19 Uhr (M 932).
1172 Großtaten Gottes.

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