Romano Guardini Online Konkordanz
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Verstehen

Die menschliche Gesellschaft ist kein Apparat, dessen Bestandteile auf einander eingepaßt wären, so daß sie ein einheitlich laufendes Ganzes bildeten, sondern sie besteht aus Einzelwesen, deren jedes bei aller Ähnlichkeit durch Volk und Zeit seine besondere Art hat; jedes seinen Werdegang, seine Zwecke und Schicksale. Jedes bildet eine in sich wurzelnde Lebenswelt. Wohl sind die Einzelnen durch vielfältige Beziehungen mit einander verbunden: durch Geburt, Erziehung, Freundschaft, Abhängigkeiten des Berufes und so fort. Doch hat jeder Mensch seine eigene Mitte, welche Erfahrungen und Tätigkeiten auf sich bezieht und so aus den allgemeinen Zusammenhängen heraustritt. In jedem wirken auch dem fremden Leben feindliche Kräfte, die das Zusammenleben erschweren, ja zerstören.
Was ist also gefordert, damit ein Zusammenleben nicht nur möglich, sondern auch fruchtbar werde? Auf die Frage wäre vieles zu nennen; eins davon ist das Verstehen. Das ist aber nichts Geringes.
Denn was bedeutet das? Wann verstehe ich? Wenn ich merke, was der Andere da drüben, mit dem ich es zu tun habe, meint. Wenn mir klar wird, warum er so handelt, warum er sein Leben so führt, wie er es tut; warum er so geworden ist, wie er mir jetzt gegenübersteht ...
Um besser zu sehen, worum es dabei geht, wollen wir auf andere Wesen blicken, die ebenfalls in Gemeinschaft leben, auf die Tiere. Verstehen die sich gegenseitig? Sie sind durch die verschiedensten Beziehungen verbunden; in vielfältigster Weise von einander abhängig. Denken wir etwa an Vögel, die in gegebener Zeit sich paaren, ihre jungen ernähren und schützen; ihnen helfen, daß sie selbständig werden - verstehen

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