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aber daß das so ist, streicht das Leben aus. Das wirkt in alles hinein; ins eigene Sein und in die Beziehung zu den Menschen. Wenn man das klar einsähe – innerlich, nicht nur intellektuell – und es in Treue verwirklicht, könnte man – beinahe hätte ich gesagt: heilig werden. Es ist aber eine so kümmerliche Mühsal. Isola, Dienstag 3.11.53 Ich habe mich heute gefragt, warum ich eigentlich dieses »Tagebuch« zu führen versuche. Warum führt man überhaupt Tagebuch? Man könnte es tun, weil man sich selbst zu Gesicht bekommen, das Gefüge des eigenen Daseins verstehen und, vielleicht noch dazu, mit sich selber vorankommen will. Das ist bei mir nicht der Fall. Ich bin mir selbst eigentlich kaum interessant. Ein paar Mal hatte ich das Gefühl, hinter meinem Dasein sei ein verborgener Sinn und Wille – wie das jeweils bei jedem Menschen der Fall ist –, aber eben der meine. Doch ist das kein biographisch faßbarer Sinn, und ein Tagebuch hilft nicht dazu, ihn zu sehen. Oder man könnte ein ausgesprochen biographisches Interesse haben; den Wunsch, zu erzählen, was geschehen ist und wie sich darin das eigene Leben entfaltet hat – verbunden mit dem Nebengedanken, es auch anderen zu erzählen. Dieses Interesse habe ich ebensowenig. Die Frage: was ist geschehen? und: wie ist es zugegangen? ist in mir überhaupt nicht lebendig; auch nicht mir selbst gegenüber. Was bleibt also als Motiv? Vielleicht der Wunsch, etwas aus dem furchtbaren Vergehen des Lebens zu retten – bei mir besonders schlimm, weil ich ein so schlechtes Tatsachengedächtnis habe, überhaupt ein schlechtes Gedächtnis. Mein »Gedächtnis« besteht darin, einen Gedanken immer neu hervorbringen zu können. Die Haltung, in welcher man einen Vorrat | ||
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