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Ehrfurcht

Wer über eine Erscheinung des menschlichen Daseins nachdenken will, tut gut, auch das Wort zu beachten, mit dem die Sprache sie benennt, denn in der Sprache redet mehr, als nur der Geist des Einzelnen. So wollen wir es mit der Tugend machen, die nun bedacht werden soll, nämlich der Ehrfurcht.
Ein seltsames Wort, diese Zusammenfügung von »Furcht« und »Ehre«! Furcht, die Ehre erweist; Ehrung, die von Furcht durchweht ist - was für eine Furcht könnte das sein? Offenbar keine von der Art, wie sie einen vor etwas überkommt, das Schaden anrichtet oder Schmerzen verursacht. Solcherlei Furcht bewirkt, daß man sich verteidigt oder sich in Sicherheit bringt. Die Furcht, von der hier die Rede sein soll, kämpft nicht, flieht auch nicht, sie verbietet sich aber das Zudringen, hält Abstand, berührt das Ehrwürdige nicht mit dem eigenen Wesenshauch. Vielleicht sprechen wir von dieser Furcht besser als von einer »Scheu«.
Das Wort weist dem Verständnis den Weg. Der Ursprung des Ehrfurchtgefühls ist religiöser Natur. Es ist die Empfindung des Heilig-Unnahbaren, das für die frühe Daseinserfahrung alles Hohe, Mächtige, Herrliche umgab. Darin ging Verschiedenes zusammen: Ahnung von Heilig-Großem und Verlangen, an ihm Teil zu haben - verbunden mit der Sorge, seiner unwürdig zu sein und geheimnisvollen Zorn zu erregen ...
Im Maße die kulturelle Entwicklung weiterging, rationales Verständnis und technische Beherrschung der Welt sich entfalteten, trat das religiöse Element zurück. Das Bewußtsein des Bedeutenden und Wertvollen wurde beherrschend und weckte eine verehrende Haltung, in der aber die alte Scheu noch nachklang - eben das Gefühl der Ehrfurcht, von

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