Romano Guardini Online Konkordanz
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Über den christlichen Sinn der Erkenntnis
Eine Meditation zum Semesterbeginn

I.
Was bedeutet die Erkenntnis in einem Dasein, das an die Offenbarung nicht glaubt?
Wie empfindet ein Mensch, der nichts von Gott weiß, oder doch nichts von Dem, der sich seit den Tagen Abrahams immer machtvoller geoffenbart und sich schließlich in Christus leuchtend kundgetan hat - wie empfindet ein solcher Mensch das Erkennen?
Zur Beantwortung der Frage müssen wir von der Weise ausgehen, wie der von der Offenbarung abgelöste Mensch der Neuzeit die Welt sieht. Sie ist ihm der Inbegriff dessen, was es gibt: der Dinge, der Beziehungen, der Geschehnisse. Sie hat an sich mit dem Erkennen nichts zu tun. Ihrem Wesen nach ist sie nicht vom Geiste erhellt, sondern dunkel. Nicht zur Wahrheit aufgetan, sondern verschlossen. Sie ist nur.
Die Neuzeit drückt das so aus, daß sie sagt: Die Welt ist Natur. Sie war schon immer, und wird immer sein. Alles ist in ihr, alles geschieht in ihr. Man kann nicht fragen, warum sie sei, noch wozu sie sei - sie ist eben. Der Mensch findet sich in ihr vor. Er stößt wider die Dinge. Er steht in Beziehungen, die von Ding zu Ding laufen. Er wird von Vorgängen erfaßt, die sich um ihn her vollziehen - und nun geschieht etwas Eigentümliches.
Wenn er an ein Ding gerät, dann greift er nicht nur danach, gebraucht es, ißt das Nährende, trinkt das Durststillende, umhüllt sich mit dem Wärmenden, sucht in der Höhle Schutz vor Sturm und Kälte, was alles auch das Tier tut, sondern er fragt. "Fragen" ist etwas anderes als instinkthaftes Suchen nach dem, was ein Bedürfnis befriedigt. Das geschieht im unmittelbaren

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