Romano Guardini Online Konkordanz
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Kirche und Dogma – Weg in die Freiheit
[1958]

I.
Wenn ich auf nun über fünfzig Jahre theoretischen Studiums und persönlichen Austauschs zurückblicke, so scheint mir, daß der evangelische Christ ein sehr lebendiges Verhältnis zur Heiligen Schrift hat, aber nur ein ganz unbestimmtes zu dem, was „Kirche“ heißt. So oft ich ihn über die Kirche sprechen hörte, habe ich doch kaum ein klares Bild von dem gewinnen können, was er meinte.
In der ersten Zeit des Jahrhunderts – ich erinnere mich an sie sehr gut, weil ich da studierte – wurde auf evangelischer Seite das Wort „Kirche“ nach Möglichkeit überhaupt vermieden. Das wurde dann anders, besonders in den Jahren des Existenzkampfes gegen den Nationalsozialismus. Da gewann das Wort eine neue Intensität; ja es wurde zum Kampfwort gegen die Gewalttätigkeit des Staates, der den Anspruch machte, die einzige Gemeinschaftsform der in ihm lebenden Menschen zu sein. Ihm gegenüber wurde, möchte ich sagen, das „Recht auf Kirche“ aufgerichtet. Da empfand ich lebendige Gemeinsamkeit. Wenn ich aber dann an die Vielzahl der Gruppen und an die Verschiedenheit der Glaubensvorstellungen innerhalb des evangelischen Christentums überhaupt dachte, kam mir doch immer wieder die Frage, was denn diese „Kirche“ nun eigentlich sei. So bildete sich, wie gesagt, das Gefühl, der evangelische Christ habe zu dem, was Kirche heißt, kein ursprüngliches Verhältnis.
Damit kann ich mich natürlich irren, und man könnte darüber in eine Diskussion eintreten. Lassen Sie mich aber offen sagen, daß ich in religiösen Dingen von Diskussionen nicht viel halte. Wohl von Gesprächen in kleinem Kreise, am besten zu zweit, so daß man genau prüfen kann, was das Wort meint,

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