Romano Guardini Online Konkordanz
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4. Brief

Lieber Freund!
Ich spüre es immer wieder: Hier ist die Luft leichter. Wirklich, sie ist's. Man lebt leichter als droben. Es ist, als gehe das Leben hier unmittelbarer aus seinem Mittelpunkt in die Zeit hinein, in die Arbeit, in den Frohsinn, ins Kranksein und Sterben. Es ist mehr Leben, wenn Du das Wort in seinem einfachen, klingenden Sinn nehmen willst. Droben im Norden ist's so oft ein Quälen mit dem Leben, und ein Denken darüber, und ein Systembilden, wie man's machen müsse, solle das Leben richtig geraten. Und sind dann die vielen Bücher geschrieben, die Vorträge gehört, die Methoden ausgedacht und befolgt, dann kommt etwas heraus, was wirklichem Leben verzweifelt wenig mehr gleichsieht. Freilich, wie lange wird es hier noch bleiben?..
Ich möchte der Frage noch näherkommen; dem Kern der Frage, um die es geht. Was ich da eben sagte, führt weiter. Hier ist mir deutlich geworden, wie bewußt wir leben.
Bewußtheit gehört ja zur Kultur, ist vielleicht deren erste Voraussetzung; die Ebene, auf welcher diese sich erhebt. Alles, wovon seither die Rede war, wird ja nur auf dieser Grundlage möglich. Kultur setzt einen Abstand zur unmittelbaren Wirklichkeit voraus. Der entscheidende Akt aber, durch den wir von dieser Wirklichkeit zurücktreten, ist ja, daß wir ihrer bewußt werden. Dann erst kommt alles andere: Stellung nehmen, Ziel setzen, Mittel einfügen. Erst von der Bewußtheit aus wird der Griff an die Welt, der gestaltende und schaffende, überhaupt frei.
Und doch gibt es auch hier eine feine Grenze. Es hat im Mittelalter, es hat in den folgenden Jahrhunderten – ganz abgesehen von der eigentlichen Wissenschaft - ein tiefes und genaues

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