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Sigmund Freud und die Erkenntnis der menschlichen Wirklichkeit

1. Auf das Werk von Sigmund Freud richtet sich nicht selten eine Bejahung, die an religiösen Glauben, und wieder eine Gegnerschaft, die an Verfemung erinnert - von den Mißverständnissen und Verflachungen des täglichen Geredes zu schweigen. Alles Zeichen dafür, daß dieses Werk im allgemeinen nicht in seiner wirklichen Bedeutung gesehen wird. Wenn ich also hier eine philosophische Würdigung der Freud'schen Gedanken versuche, so muß ich die Bitte vorausschicken, darin nicht mehr zu sehen als sehr vereinfachende Hinweise. Der Gesichtspunkt aber, unter dem der Versuch stehen soll, ist die Frage, was Freuds Theorien für die Erkenntnis des Menschenwesens bedeuten. *1
Es sei mir erlaubt, von dem Eindruck auszugehen, den seine Schriften bei der ersten Begegnung vor etwa dreißig Jahren auf mich gemacht haben. Es war ein doppelter.
Vor allem der einer großen Ausweitung des Blickes auf den Menschen. Genauer gesagt, auf das, was man die »Tiefe« im Menschen nennen mag.
Von einer solchen Tiefe wußte man natürlich von je. Etwa unterschied die tägliche Erfahrung einen Menschen, dessen Verhalten eine Dimension nach innen hin fühlen ließ, von einem oberflächlichen, bei dem alles »auf der Hand lag«. Oder die ethische Beurteilung einer Handlung stellte eine vom Eigentlichen ausgehende Motivation über solche, die aus dem Vordergründigen kamen. Es fehlte aber, wenn ich recht sehe, die Vorstellung eines seelischen Kosmos, der sich,
*1 Der Text dieses Beitrages ist in allem Wesentlichen dem des Vortrages gleichgeblieben. Einige Gedanken, die im Vortrag mit Rücksicht auf die verfügbare Zeit wegfallen mußten, sind hier wieder aufgenommen worden.

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