Romano Guardini Online Konkordanz
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Jahreswende
[1958]

Verehrte Hörer! Man hat mich aufgefordert, zur Wende des Jahres etwas zu sagen. Aber nur fünf Minuten dürfe es dauern – alle haben ja in diesen Augenblicken so Wichtiges zu tun! Vielleicht wundern Sie sich, wie man in fünf Minuten etwas sagen könne, das anzuhören sich lohnt. Ich wundere mich selbst darüber; also werde ich einen jener Leute zu Hilfe rufen, die fähig sind, in Worte mehr hineinzubringen, als das unsereiner kann, nämlich einen Dichter.
Von Clemens Brentano gibt es zwei Zeilen, die man nicht mehr vergißt, wenn man sie einmal mit Bedacht gelesen hat; hören Sie:
„O Stern und Blume, Geist und Kleid, Lieb, Leid und Zeit und Ewigkeit!“
Man kann sich die Verse wieder und wieder zusprechen; sie werden immer tiefer. Sie gewinnen magische Kraft, bringen das Dasein gegenwärtig und durchlichten es.
Eigentlich bilden sie gar keinen richtigen Satz, denn in ihnen steht nicht ein einziges Zeitwort. Sie reihen nur Bilder aneinander, Dinge, Erfahrungen des Herzens. Aber so, daß ein Ding auf das andere hinblickt, eine Erfahrung der anderen antwortet, bis sich alles in dem Wort „Zeit“ – will sagen: vergehendem Leben, vergänglicher Erde – zusammenfaßt, und darüber das Wort „Ewigkeit“ aufleuchtet.
Da ist zuerst der „Stern“, das Strahlende droben – ihm verschwistert aber die „Blume“ hier vor mir im Glas; mit ihrer lichten Gestalt ebenfalls ein Stern, wie denn auch der Stern droben von einem anderen Dichter „Blume“ genannt worden ist ... Dann der „Geist“ mit seinem geheimnisvoll-unsichtbaren

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