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Wahrhaftigkeit

Eine Tugend, die in unserer Zeit viel Schaden gelitten hat, ist die Wahrhaftigkeit - das Wort so verstanden, daß es die Liebe zur Wahrheit mitmeint, den Willen, die Wahrheit solle erkannt und angenommen werden.
Sie bedeutet zunächst, daß der Redende sage, was ist - so, wie er es sieht und versteht. Daß er also, was er in sich trägt, auch ins Wort bringe. Das kann unter Umständen schwer sein, Verdruß, Schaden und Gefahr verursachen; aber das Gewissen erinnert uns, daß die Wahrheit verpflichtet; daß sie etwas Unbedingtes ist, Hoheit hat. Von ihr heißt es nicht - Du magst sie sagen, wenn es dir genehm ist, oder irgendein Zweck es nahelegt, sondern: Wenn du redest, sollst du die Wahrheit sagen; sie nicht verkürzen, noch verändern. Sollst sie überhaupt sagen, einfachhin - es sei denn, die Situation lege dir nahe, zu schweigen, oder du könnest einer Frage in anständiger Weise ausweichen.
Abgesehen davon ruht aber auch unser ganzes Dasein auf der Wahrheit - wir werden noch davon zu sprechen haben. Die Beziehungen der Menschen zueinander, die Einrichtungen der Gesellschaft, die Ordnung des Staates, alles, was Gesittung heißt, und ebenso das Menschenwerk in seinen unzähligen Formen - alles ruht darauf, daß die Wahrheit in Geltung stehe.
Wahrhaftigkeit bedeutet also, daß der Mensch das unwillkürliche Gefühl habe: die Wahrheit soll gesagt werden, einfachhin. Natürlich, noch einmal betont, unter der Voraussetzung, daß der Andere ein Recht darauf habe, unterrichtet zu werden. Wenn nicht, dann ist es Sache der Lebenserfahrung und Klugheit, die richtige Form des Nicht-Sagens zu finden.
So muß auch angemerkt werden, daß es für die Wahrhaftigkeit des täglichen Lebens nicht gleichgültig ist, ob man innere

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