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schweigen - entbunden und kann die furchtbarsten Urteile aussprechen, ohne sich auch nur in seinem Schicklichkeitsgefühl, geschweige denn in seinem Gewissen beunruhigt zu fühlen. Wie muss es um die theologischen und praktischen Voraussetzungen bestellt sein, wenn aus ihnen eine solche Haltung erwachsen kann - die keine vereinzelte ist, sondern einem aus Schrifttum und persönlicher Begegnung immer wieder entgegenschlägt! Lieber Freund, ich habe offen gesprochen; der kleine Brief, zu dem ich meine Meinung sagen sollte, gibt mehr als das Recht dazu. Dein Romano Guardini*1060 175. Brief vom 20.01.1946, Tübingen.*1061 Tübingen 20.1.46. Lieber Josef und liebe Mina Am Donnerstag bin ich nach einer sehr langweiligen Reise hier angekommen. Besonders die 3 Stunden Aufenthalt in Plochingen*1062 waren wenig unterhaltsam. Am Freitag hatte ich Vortrag im Olympiatheater in Reutlingen vor den Lehrern, am Samstag im Martini-Haus (So heißt es wohl?) in Rottenburg*1063, vor den gleichen Zuhörern. Heute war Studenten-Gottesdienst im Johanneum*1064, und so hat der Lauf der Arbeit hier sich in Gang gebracht. 1060 Die förmliche Anrede ohne Namensnennung und die ebenso förmliche Unterschrift weisen auf Guardinis Absicht einer möglichen Veröffentlichung hin. 1061 Guardini war schon im Juni 1945 von Carlo Schmid, damals »Landesdirektor für Kultus, Erziehung und Kunst«, wegen einer möglichen Berufung nach Tübingen ins Auge gefaßt worden. Ende Juli 1945 stellte die - noch gar nicht wiedereröffnete - Philosophische Fakultät Tübingen den Antrag, Guardini für das WS 1945/46 einen Lehrauftrag für »europäische Geistesgeschichte« zu erteilen. Mitte September 1945 wurde eine Professur ad hominem für Guardini von der Fakultät beschlossen. Die erste Vorlesung fand am 15. November 1945 statt. (Gerner II, 110-112). In Tübingen bezog Guardini ein Zimmer in der Wilhelmstraße 107 bei Familie Philipp, pendelte aber in der Anfangszeit noch häufig zwischen Mooshausen und Tübingen. 1062 Ortschaft an der Bahnstrecke zwischen Ulm und Stuttgart mit Umsteigebahnhof nach Tübingen. 1063 Thema ist nicht ausgewiesen. 1064 Katholisches Studentenheim in Tübingen, als eine Filiale des Wilhelmstifts während des Krieges enteignet, dann der Studentengemeinde ab WS 1945/46 zur Verfügung gestellt. Guardini hielt den Studentengottesdienst dort bis zum Ende seiner Tübinger Zeit, obwohl das Johanneum ab Sommer 1946 dem Theologenkonvikt zurückgegeben und die Studentengemeinde anderswohin übersiedelt war. | ||
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