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Die Gestalt Vergils
in Dantes "Göttlicher Komödie"

I.
Dantes große Dichtung ist ein "itinerarium mentis in Deum", nicht in Begriffen entwickelt, sondern in Gestalten und Geschehnissen geschildert. Unter diesen Gestalten findet sich eine Fülle historischer Persönlichkeiten, nämlich jene, denen der Wanderer auf seinem Wege durch die Bereiche des Jenseits begegnet und an denen er seine Stellungnahme zur Geschichte vollzieht. Andere ermöglichen die Wanderung selbst, als Führer auf dem Wege vom "undurchdringlichen Walde" zur Freiheit des Empyreums. Die erste von ihnen ist Vergil.
Wer ist Vergil? Man hat ihn allegorisch aufgefaßt und in ihm die Verkörperung der natürlichen Vernunft oder der Philosophie gesehen. Durch eine solche Deutung verbaut man sich aber das Verständnis seiner Gestalt - wie das der Göttlichen Komödie überhaupt, die keine gereimte Theorie, sondern echte Dichtung ist. Die Frage wird schon vor der Gestalt dringlich, die ihr Ganzes trägt, Dante selbst. Denn wer ist er? Die Antwort darf nur lauten: Er, Dante. Also nicht etwa, wie Parzival, der nach der letzten Hoheit suchende ritterliche Mann; oder, wie Faust, der das Dasein durchexperimentierende Ruhelose, sondern Dante Alighieri, der um die Wende des dreizehnten Jahrhunderts gelebt und die durch geschichtliche Zeugnisse überlieferten Schicksale erfahren hat. Das ist ja das Neue seiner Dichtung, daß die Person, die sie trägt, weder ein Sagenheld noch eine symbolische Figur, sondern ein geschichtlicher Mensch ist. Dann freilich - und nicht nur daneben, sondern ebendarin - ist sie "der Mensch" einfachhin; der Wanderer auf dem Weg zu Gott und, in Gott, zu sich

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