Romano Guardini Online Konkordanz
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1. Brief

Lieber Freund!
Denkst du an den Nachmittag droben am Waldrand, wo die beiden Bussarde horsten? Von Zeit zu Zeit glitten sie hinaus in die blaue Weite. Das Auge ruhte in ihren Kreisen; das Leben unseres Inneren sammelte sich in das Auge, und von der Gewalt der klaren, schwingenden Kraft dort oben getragen, spürte unser ganzes Sein die Fülle des Raumes ...
Drunten fern ragten die Ketten der Berge in ihren reinen Zügen, und dahinter wartete das Land, das ich seit zwanzig Jahren nicht mehr gesehen, und ich wußte, wenn ich nun als Mann wieder hinging, würde es viel für mich bedeuten.
Wir sprachen über so manches; eigenes Leben und das, was im Ganzen, Allgemeinen geschah, wob sich in eins. Da suchte ich auch eine Frage zu fassen, die ich überall empfand. Schon lange spürte ich sie, wie sie immer stärker hervordrängte, und ich wußte, davon, ob wir die Antwort finden, die lebendige des Seins, nicht nur des Gedankens, hängt viel für unser Leben ab. Dann kam ich nach Italien, und dort wurde die Frage ganz schwer. All die Schönheit hier hat sie mir mit Trauer gefüllt. Nun bin ich zum zweiten Mal da, und es ist Zeit, daß ich das alles zu fassen versuche. Sehr viel liegt in der Frage. Sie will den Sinn wissen von dem, was vor sich geht. Die Antwort stellt uns vor eine Entscheidung, und ich weiß nicht, was in alledem stärker sein wird: Das Geschehen mit seinem unentrinnbaren Zwang, oder Einsicht und überwindendes Schaffen.
Wir haben so viel miteinander bedacht all die langen Jahre her. Du weißt, was hinter so manchem Worte steht; das wird mir helfen. Es kann ja nichts Endgültiges sein. Mir ist, als stehe ich mitten in einem Wogen; überall bricht es, strömt, sinkt und schwillt. Ich will sehen, ob ich die Richtungen finden kann

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