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Über religiöse Dichtung der Neuzeit [1951] I. Mit der Renaissance hört die biblische Offenbarung auf, die unbezweifelte Grundlage des persönlichen wie öffentlichen Lebens zu sein. Wohl lebt der Glaube in vielen Einzelnen und Gruppen weiter, gewinnt sogar bei denen, die ihm treu bleiben, eine neue Kraft und Reife; er bildet aber nicht mehr die allgemein anerkannte Norm des Daseins. Für eine wachsende Zahl von Menschen wird er fragwürdig oder verliert alle Bedeutung. Und während eine nachwirkende Tradition ihn lange Zeit hindurch noch als etwas erscheinen läßt, das der achtenswerte Mensch respektiert, ändert sich nach dem ersten Weltkrieg, vor allem unter der Herrschaft des Nationalsozialismus, auch das. Jene Ehrfurchtsempfindungen verschwinden. Man kann sich ohne nachteilige Folgen als Nichtchrist bezeichnen; ja, es zu tun, verleiht sogar weithin den Charakter der Zugehörigkeit zum Kommenden. In dieser Auflösung des Glaubens kann man verschiedene Momente unterscheiden. Am schärfsten zeichnet sich der offene Angriff ab, wie er etwa durch Ludwig Feuerbach, Auguste Comte, Karl Marx, Friedrich Nietzsche geführt wird. Von verschiedenen Voraussetzungen ausgehend, erklärt dieser Angriff, der Glaube an die biblische Offenbarung ruhe auf überholten geschichtlichen Bedingungen; widerspreche der Vernunft; bilde den Ausdruck unberechtigter sozialer Ansprüche; hindere die Entwicklung des Menschen und der Kultur, und so fort. Weniger deutlich, aber überall wirksam ist ein Zweites: Das Gefühl für die Autorität der Offenbarung zerfällt; die auf ihr ruhenden Vorstellungen und Forderungen verlieren ihren Sinn; ja, da das Gewissen von der Vergangenheit her noch irgendwie | ||
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