Romano Guardini Online Konkordanz
Treffernummer:

 < Seite 129> 


Dankbarkeit

Wenn der zu Eingang unserer Überlegungen ausgesprochene Gedanke richtig ist, daß sich in jeder »Tugend« - jeweils unter einem besonderen sittlichen Wert als der Dominante - der ganze Mensch ausdrückt, dann muß darin auch die Geschichte ihren Einfluß ausüben; die Lebensgeschichte des Einzelnen ebenso wie die kulturelle Entwicklung eines Volkes oder Landes. Nicht zu allen Zeiten bestimmen die gleichen Tugenden die sittliche Haltung.
Man möchte sagen, sie seien wie Sternbilder, die in gewissen Epochen erscheinen und das Firmament der Werte beherrschen, um dann wieder allmählich zurückzutreten und anderen Raum zu geben. dadurch hören sie nicht auf, gültige Wertgestalten zu sein, üben auch immer noch Einfluß aus, denn die Epochen sind ja nie wie durch einen Schnitt von einander getrennt. Aber sie stehen nicht im Vordergrund des sittlichen Bewußtseins. Freilich können sie im Wandel des seelischen Zeitflusses später wieder vordringen.
Von einer solchen Tugend, die heute, wenn ich recht sehe, zurücktritt, soll nun die Rede sein, nämlich von der Dankbarkeit.
Von welchen Maßstäben des Richtigen und Gemäßen wird unser heutiges Leben bestimmt? Gibt es darin das, was doch ein Danken erst möglich macht, nämlich das freie Geben und Empfangen als bestimmenden Charakterzug des sozialen Lebens? Ich glaube, nein.
Natürlich wird auch gegeben und empfangen, überall da, wo ein Mensch dem anderen eine Freude machen oder eine persönliche Hilfe bringen will; aber es hat sich ins Private zurückgezogen - und selbst da macht sich eine Art Organisation

 < Seite 129>