Romano Guardini Online Konkordanz
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Der Heilige in unserer Welt

Die Grundlage
Die meisten Tage des Kalenders tragen die Namen von Persönlichkeiten der christlichen Geschichte, denen ein besonderer Charakter von Ehrwürde, von Mahnung und Verheißung zugleich eignet: der Heiligen *1. Ihre Gestalten begegnen uns in der christlichen Kunst, in Legende und Dichtung, und wir selbst tragen ihre Namen. Welche Bewandtnis hat es mit ihnen? Was ist das: ein Heiliger?
Sobald man mit ihrem Wesen vertrauter ist, wird die Antwort nicht schwer; schon im Alten Testament steht »das erste und größte Gebot«, das dann Christus neu bestätigt hat: »Du sollst den Herrn deinen Gott lieben, aus deinem ganzen Herzen, aus deinem ganzen Gemüt und mit deiner ganzen Kraft« (Dtn 6,5; Mt 22,37). Ein Heiliger ist ein Mensch, dem Gott gegeben hat, dieses Gebot vollkommen ernst zu nehmen; es in seine Tiefe hinein zu verstehen und alles an seine Verwirklichung zu setzen. Etwas Großes also - ja etwas Furchtbares; denn was geschieht einem Menschen, der sich darauf einläßt? So versteht man die ehrfürchtige Scheu, zugleich aber auch die geheimnisvolle Anziehung, die der Glaubende angesichts dieser mächtigen und innigen Gestalten empfindet. Die Antwort, die wir da gefunden haben, gilt für alle Heiligen, aller Völker und aller Zeiten. Man kann die Frage aber auch anders stellen, nämlich wie denn ihr Bild Im Bewußtsein der Glaubenden erscheine?

*1 Der Vortrag wurde am 6. Januar 1956 im Bayerischen Rundfunk gesendet. Er wurde nachher erweitert bzw. genauer gefaßt, ist aber in allem Wesentlichen unverändert geblieben. Ich bitte den Leser aber, ihn nicht als Abhandlung, sondern als einen in lebendiger Rede gegebenen Hinweis auf etwas zu nehmen, das mir für unsere Situation wichtig scheint. Damit ist auch gesagt, daß die dargelegten Gedanken der Prüfung und weiteren Durchdenkung bedürfen und daher der Anteilnahme der Leser anvertraut sind.

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