Romano Guardini Online Konkordanz
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Zur Kritik der historischen Begriffe
[1952]

Die Art, in der das wissenschaftliche sowohl als auch das populäre Denken das geschichtliche Dasein – das heißt aber sich selbst – versteht, ist durch eine Grundvorstellung bedingt: Das geschichtliche Geschehen ist ein einheitlicher Zusammenhang.
Er bedeutet ein Fortschreiten auf ein – wenn auch nie erreichbares – Ziel zu. Dieses Ziel ist „oben“, in der Höhe; es ist die Fülle des Lebens und des Werkes; die Erfüllung des Sinnes.
Diesem Fortschreiten liegt eine einheitliche Realität zugrunde: die Natur. Sie ist gegeben im Zusammenhang der toten Dinge und des Lebens. Sie setzt sich fort im Bereich des Menschen, seinem Erfahren, Denken, Handeln, Schaffen. Wohl besteht eine tiefe Verschiedenheit dieser Bereiche; sie sind aber Stufen in einem einheitlichen Ganzen.
Diese Natur ist „in Ordnung“. Sie ist erfüllt von einem Antrieb, die eine Bewegung erzeugt. Eben die Bewegung nach oben hin. Sie ist dem neuzeitlichen Menschen deutlich geworden im Impuls der Renaissance, die überzeugt war, aus dem Dunkel des Mittelalters zur Herrlichkeit des Kommenden fortzuschreiten. Sie hat ihre wissenschaftliche Bestätigung erblickt in der Entwicklungstheorie, wonach aus der Materie das Leben, aus der ersten, undifferenzierten Form des Lebens die ganze Reihe der differenzierten Formen sich entwickelte; die Aufeinanderfolge einen Fortschritt darstellte, vom Geringeren zum Höheren; das Biologische ins Psychologische, das Psychologische ins Spirituelle überging usw. Diese Vorstellung wird auch auf alles Menschliche übertragen und bildet die Grundlage der Geschichtsvorstellung.
Die Natur ist als solche in Ordnung. Ihre Bewegungen führen zum Richtigen. Genauer gesagt: das Richtige sind eben ihre Bewegungen, denn sie ist die Norm. Was Unordnung scheint, ist das noch Unvollkommene. Es geht aber in Vollkommenes

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