Romano Guardini Online Konkordanz
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geistigen Lebens auftritt. Indem sie konkret wird, bestimmt sie zugleich, an wen sie sich wendet. Das bedeutet nicht, daß es verschiedene Wahrheiten gäbe; so zu sprechen wäre nicht nur Unsinn, sondern Abfall. Wenn aber Wahrheit Existenz wird, Macht, Daseinsgestalt, dann ist sie nicht von jedem vollziehbar wie eine Formel, sondern nur von dem, der selbst in ähnlicher Position steht. Irgendwie kann jeder die „Apologie“ und den „Phaidon“ verstehen; wirklich, existentiell nur jener, für den die Wahrheit der Idee Basis von Dasein ist. In irgendeinem logischen oder historischen Sinne wird jeder die „Confessiones“ verstehen; mit lebendiger Sprache reden sie nur, wenn der Hörende etwas von jenem Konflikt der Geistigkeit und Sinnlichkeit in sich trägt, der sie erfüllt und der sich erst in dem Maße löst, in dem das Herz erwacht und sich dem anklopfenden Gott öffnet. Ähnlich steht es mit den „Pensées“. Interessant werden sie für jeden sein, der sie als Dokument einer großen Zeit, als Ausdruck einer mächtigen Persönlichkeit, als Fülle bedeutungsvoller Formulierungen zu würdigen versteht – wichtig aber in dem Sinne, den wir schon mehrmals auszudrücken suchten: Ort der Begegnung mit dem Wesentlichen, Anstoß zum Schicksal im Geistigen können sie nur dem werden, der ihnen irgendwie verwandt ist. Der Geist muß ihm Wirklichkeit, Macht, glühendes Leben sein. Die Frage nach der Wahrheit muß ihm aus dem Kern des Daseins kommen und Verstand, Willen und Herz in Anspruch nehmen. Der Begriff darf ihm kein „bloßer Begriff“ bleiben, sondern muß ihm zum Ausdruck existentieller Entscheidung werden. Er muß einen Sinn dafür haben, wie die tiefste Erfahrung sich im begrifflichen Denken vollendet und der reine Gedanke Inhalt vom Leben wird. Dann wird ihn dieses seltsame Buch, das gar kein richtiges Buch ist, so tief berühren, daß er es nie wieder ganz zur Seite legt.




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