Romano Guardini Online Konkordanz
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Lebensgestalt heißen mag. (Mythos, Sage, Roman und Drama suchen sie herauszuarbeiten.)
Von hierher gesehen gewinnen Erinnerung wie Voraussicht erst ihre volle Bedeutung.
Die beiden Akte realisieren sich jeweils in der Gegenwart. Diese ist nichts Stehendes, sondern nur im Durchgang, als „Augenblick“ gegeben, denn das Gegenwärtige wird sofort zum Vergangenen und als solches Gegenstand von Erinnerung; ebenso wie jenes Moment des Geschehens, das die Voraussicht als nächste Zukunft meint, sofort zur Gegenwart wird. Daß das Geschehene unauslöschbar geschehen bleibt – was als die tiefste Schicht des Gedächtnisphänomens, als Gedächtnis des Seins bezeichnet werden könnte – und daß die Richtung des Stromes der Zukunft durch die Gegenwart hindurch in die Vergangenheit irreversibel ist, drückt zusammen den Ernst des Geschehens nicht nur, sondern auch des Erinnerns und Voraussehens aus.
Der gezeichnete Zusammenhang ist offenbar nur möglich, weil hinter ihm etwas Ganzes steht und ins Bewußtsein drängt: eben jenes, was wir die Lebensgestalt genannt haben. Das kann mehr oder weniger deutlich, mehr oder weniger intensiv, mehr oder weniger entfaltet sein: immer ist es wirksam und trägt sowohl Gedächtnis wie Voraussicht. Der Grad dieser Bewußtwerdung hängt, außer von der Stärke der Persönlichkeit, auch von psychologischen Momenten innerer Klarheit, Gehobenheit usw. ab, wie sie in Stunden der Entscheidung eintreten. Sie kann in bestimmten Situationen die Hellsicht einer Vision gewinnen, durch die dem Erfahrenden der Inbegriff der Seinsstruktur, des Werdens und des Schicksals seiner selbst vor den inneren Blick gelangt.




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