Romano Guardini Online Konkordanz
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bedrohenden Mächten förmlich beherrschten Berlin einen guten Internatsmagister, Dominikaner, sicher einer Seele von einem Mann, aber geradezu irritierend in seiner Hilflosigkeit und Wirklichkeitsfremde!
Immer wieder fühle ich mich als einen nicht hierher Gehörigen. Und ich weiß nicht, ob ich mich durchsetze. Ich bin zu wenig Gelehrter, und auf der anderen Seite zu wenig »Redner«. Mir klapperts zuweilen im Ohr - kennst Du den schlimmen Augenblick, wenn man sich plötzlich reden hört? Ich sollte nicht so viel reden müssen; ich fürchte, das hält meine Struktur nicht aus. Die verschleißt zu schnell.
Nun habe ich eine Wohnung.*782 Liegt zwar nach Norden, und Erdgeschoß, und ist sehr klein: 3 Zimmer für Frl. Thomas*783 und mich. Dazu Küche und Keller. Ich bin aber doch froh. Nun richte ich sie ein, so gut es bei den sehr hohen Preisen gehen will. (Miete jetzt 80 Mk. monatlich; steigt dann.)
Gestern habe ich ganz stark die Gewalt der großen Stadt gespürt. Nicht etwa nur die Romantik der vielen Lichter, und der Dynamik der Autos. Es war mehr. In dem Verkehr, in der Art, wie diese Kraft-Wagen kommen und beherrscht sind; und wie das Licht aus den tausend Quellen abends die Straßenräume formt; und wie diese Menschen sind und gehen, spricht ein Neues. Es ist eine neue Form des Daseins im Heransteigen!
Und ich fühle sie durchaus verwandt mit dem Christentum. D.h., natürlich im ewigen Wesens-Kontrast stehend, den Religion überhaupt, die Bergpredigt vollends zu aller Natur und Welt bildet. Aber der war immer da, auch im Mittelalter. Abgesehen davon hat diese Welt nicht weiter zu Christus, als das 13. Jahrhundert. Denk an Madeleine Sémer.*784 Sie ist Kind dieser Zeit. Und Lucie Christine auch, so sehr sie sich wahrscheinlich verwahren würde.*785
Gott befohlen ihr Beide. Und schreibt mir bald wieder.
Romano

782 Adresse nicht ermittelt; zu Guardinis häufigen Umzügen und wechselnden Adressen siehe das Vorwort.
783 Die Haushälterin Elisabeth Thomas.
784 Später veröffentlichte Guardini: »Madeleine Sémer. Eine Mystikerin unserer Tage«, in: SchG 7 (1927) und in: Hochland 25 /1927/28), 623-644 (M 277) und übersetzte: Felix Klein, Madeleine Sémer. 1874-1921, Mainz (Grünewald) 1929 (M 280).
785 Guardini hatte sich seit seiner Primiz 1910 mit der Übersetzung beschäftigt: Lucie Christine, Geistliches Tagebuch. 1870-1908, Düsseldorf (Schwann) 1921(M 67).

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