Romano Guardini Online Konkordanz
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schreiben, hab ichs stenographiert. D.M. wird so gut sein, es abzuschreiben; ich bitte auch um einen Durchschlag. Bitte Dich um Anmerkungen. Vielleicht führe ich es aus.
Du hast mit Deiner Charakteristik im letzten Brief ganz recht. Wissenschaft ist für mich jenes Gebilde, das aus abstraktem Denken und aus ganz individueller Beobachtung entsteht. Und zwar ist mir das Individuelle nicht nur der Ausgangspunkt, um zum abstrakten Satz zu gelangen, sondern es ist selbst Erkenntnis­objekt. Gerade das Ineinanderspiel des Individuellen und Allgemeinen ists, was mich interessiert. Und fast will mirs vorkommen, als sei Individuum und Allgemeinbegriff bzw. Gesetz gar nicht der eigentliche Gegensatz, sondern das Individuum (d.h. das Geistige) die Synthese von Allgemeingesetz und einem absoluten Gegensatz dazu, der schwer zu fassen ist (Fülle, Materie, Washeit...). So gefaßt, ist das Individuum eigentlich das allein-gegebene und endgültig interessante. (Bist Du mit der Darstellung des Individuum-Begriffs in der »Ehre Gottes« einverstanden? Was da gesagt ist über Gottes Einmaligkeit?) Freilich bin ich mir bewußt, daß in dieser Form des Denkens ein außerwissenschaftliches Moment enthalten ist: nämlich eine intuitive Fähigkeit, die das Individuelle als Synthese des Allgemeinen und seines Gegensatzes erschaut; und eine künstlerische Fähigkeit, es auszusprechen. Deshalb meinte ich auch letzthin in einem Brief an D.M., daß ich eigentlich kein richtiger Gelehrter sei. Denn Denken ist mir nicht so sehr ein Definieren der Wahrheit im Urteil, sondern ein Durchdringen und Nachschaffen der Welt des Seins und Geltens im geistigen Gedankenbild. Ich fühle eine gewisse dichterische Kraft in diesem Denken. Das mag auch der Grund sein, warum es im Grunde so wenig kritisch ist, und warum ich jedem Streit aus dem Wege gehe. Man kann ein Kunstwerk nicht beweisen; wenn es nicht überzeugt durch sein positives Dasein, dann ist diese Überzeugung durch Diskussion von Grund und Gegengrund nicht beizubringen. -
Wenn in zwei Worten gesagt werden sollte, was unsere Aufgabe ist, so würden es wohl diese sein: die Quellen - und: die Ordnung. Das Religiöse Leben zu den Quellen zu führen und aus ihnen aufzubauen: Liturgie, kirchl. Gemeinschaftsleben, hl. Schrift, persönlich-selbständiges Innenleben. Und dann die rechte Ordnung zu finden: daß die Mittel

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