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Was Du mir geschrieben, daran habe ich rechten Anteil genommen. Weißt Du, ich hätte mich, offen gestanden, auch gewundert, wenn jetzt in den geordneten Verhältnissen kein Rückschlag im Nervenwesen gekommen wäre. Der mußte ja eintreten, sobald sich die Lage für Dich entspannte. Und abgesehen davon, gib acht, es wird wieder Frühling werden wollen bei Dir, irgend etwas Neues will heraus, deshalb ist jetzt alles gebunden und rührt sich nicht. Laß wachsen, Lieber, es wird gut werden. Ich habe bei Dir dasselbe Gefühl, wie bei der Natur. Alles kommt, sobald es innerlich so weit ist. Du kannst Dich auf das innere Werden verlassen. Das ist besser als alle Methode und verstandesmäßiges Machenwollen. Wie ists nun mit der Arbeit, die Du vorhattest? Goethes Stellung zu Religion und Christentum?*619 Fehlt Dir Material dazu? Oder würdest Du lieber an eine Übersetzung gehen? Du dachtest schon einmal an Bonaventuras Breviloquium, oder das Itinerarium? Wie wärs damit? Und unterzubringen müßte es doch sein, vielleicht in der Köselschen Bibliothek*620. Schreib einmal darüber, was Du meinst; die Textausgaben sind rasch zu beschaffen. Ich meine fast, es wäre gut, wenn Du einmal frischweg etwas anfingest, damit der Wagen etwas ins Laufen kommt. Am Anfang wirds mühsam gehen, dann aber sicher freier und leichter. Weißt Du, mir geht es fast wie Dir mit dem alt werden. 33 bin ich geworden. Aber immer noch ist mir vieles Chaos, und kommt mir festes ins Wanken, wird, was ich endgültig eingeordnet glaubte, von größeren Kreisen aufgenommen. Alt sein heißt doch, einen fertigen Bau zu haben, in dem man wohnt, ein fertiges Handwerkszeug, mit dem man arbeitet. Mir aber werden tausendmal erledigte Fragen immer wieder lebendig, und ich kann mirs kaum vorstellen, wie das ist, wenn man Fragen (d.h. richtige Fragen!) »endgültig gelöst« hat. Denken ist Leben, und das wächst und wird beständig. Deswegen bin ich kein Skeptiker und kein Relativist. Im energischen »Ja« und »Nein« bin ich der alte. Auch in der fröhlichen Zuversicht auf die Kraft des Gedankens. Das »'´?? ???????´?«*621 ist immer noch das beste Wort. Mein Aufsatz über die Sammlung Thule (altnordische Dichtung) wächst immer mehr. Er wird zu einer Auseinandersetzung mit der Frage der »klassischen« oder »germanischen« Bildung.*622 - 619 Vgl. Br. 73. 620 Bibliothek der Kirchenväter im Kösel Verlag Kempten. 621 »in Zuversicht« (Phil 1,6 ); vgl. Br. 25, 62 und 87. 622 Thule oder Hellas. Klassische oder deutsche Bildung?, in: Der Wächter 3 (1920), 2-16; 66-79 (M 52). | ||
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