Romano Guardini Online Konkordanz
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beim Anderen die Werde-Bewegung gehemmt und er in ein bestimmtes Stadium gebannt wird - während doch alles echte Du-Verhältnis sagt: Sei, der du bist; und wachse voran, damit du werdest, der du sein sollst! -, sondern weil personhaftes Verstehen wesenhaft nur aus der Hinbewegung des Kommens und Anblickens heraus möglich ist.
Und wenn ich im Vollziehen der Bewegung beim Anderen angelangt bin, und er hat sich mir geschenkt im Vertrauen, in der Liebe, zu wirklicher Teilhabe - so wäre mein Besitz kein festes Haben. Morgen könnte ich nicht darauf pochen: Ich "habe" dich -, sondern müßte aufs neue die Bewegung vollziehen, auch und gerade wenn die Treue fortdauert, und die Liebe lebendig bleibt. Denn die Liebe ist wesenhaft in Bewegung. Sie ist kein Gerüst, keine ein für allemal gebaute Brücke, sondern ein Gehend-Sein ins Du hinüber. Sie besteht in fieri, wie die alte Philosophie sagt; im beständigen Getanwerden. Sobald diese Bewegung aufhört, tritt an Stelle der Liebe eine Zweckbeziehung, eine Funktion ... Und ebenso steht es mit der Treue. Sie ist kein festgebundenes Seil, keine ein für allemal errichtete Mauer, sondern sie ist Leben; ein lebendiges, immer neues Tun. Treue ist habitus, der aber immerfort in Akt übergehen muß, soll er personal bleiben, und nicht zu einer bloßen Besitzhaltung werden, wie sie einer Sache entspricht. Sobald letzteres geschieht, ist nicht mehr Treue, sondern Besitzstand. Dann wird "gehabt", aber nicht mehr eine Person, sondern ein Ding oder ein Lebewesen.
Das ist nicht bequem; zumal dann, wenn der erste, tragende Affekt nachgelassen hat, der Andere nicht mehr unmittelbar anziehend wirkt, sondern gekannt, gewohnt, "un-interessant" geworden ist; wenn das allzugut Gekannte zu irritieren beginnt, die negativen Seiten darin immer schärfer hervortreten ... Dann wird es Zeit für die eigentliche Treue. Sie kann sehr opfervoll und angestrengt werden; aber in ihr geschieht das eigentliche Durchdringen zum Personalen.
Hier wird jenes Neue, um das es eigentlich bei jenen beiden Entscheidungen ging, von denen hier die Rede war.



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