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Was aber seine Liebenswürdigkeit angeht, so würde man sehr irren, wenn man ihn einen Idylliker nennte, denn dann hätte man die Tiefen, ja die Abgründe seines Wesens übersehen. Nicht nur, daß er, der Freund Justinus Kerners, viel von der Nachtseite des Daseins gewußt hat, er war auch von dorther gefährdet. Man braucht nur die Erzählung "Der Schatz" zu lesen, um zu sehen, wie vielschichtig, ja wie zwielichtig sein Werk ist. Sein Peregrina-Erlebnis bedeutet viel mehr als eine nur vorübergehende Verzauberung; es offenbart seine Wesensart. Für ihn war es durchaus nicht selbstverständlich, leben zu können - ebensowenig wie es das für den anderen Meister reinen Gestaltens, Adalbert Stifter war. Gleich diesem mußte auch er sich der Lebensmöglichkeit immer neu versichern, und die Klarheit der Form half ihm zur Überwindung dunkler Bedrohungen. Hierin, und nicht in spielender Daseinsfreude, lag die Bedeutung, welche Anakreon für ihn hatte. Bei alledem ist ihm - und nicht als Ausnahme, sondern immer wieder - etwas gelungen, das Größeren versagt geblieben ist, nämlich das Vollkommene. Mörike hat Dinge geschaffen, die in der Hand liegen wie eine griechische Schale: ganz offen gewordene Innerlichkeit, ganz leicht gewordenes Lebensgewicht. Oft aber - so oft, daß man es als ein Wesenszeichen seiner Dichtung ansehen muß - öffnet sich in der klaren Gegenwart seiner Gestalten plötzlich eine Tiefe, aus der es wie vom Urbereich heraufblickt. Und wenn für die Auswahl der hier gedeuteten Dichtungen außer der Freude an ihrer Schönheit noch ein anderer Gesichtspunkt maßgebend war, dann dieser dunkle Blick. Er trifft den Empfänglichen in jedem der fünf von einander so vielfach verschiedenen Gedichte. | ||
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