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Gestalten nach ihrer Notwendigkeit aufsteigen. Wenn aber der Künstler in Ehrfurcht vor Gott steht und sein Volk liebt, dann geht sein Werk von selbst und ohne Programm in das Leben des Ganzen ein. Der Leser kennt gewiß den Dialog Heinrich v. Kleists über das Marionettentheater. Man hat ihn schon oft in diesen Fragen als Zeugen aufgerufen; während der vergangenen Jahre ist aber so viel verschüttet worden, daß man es ruhig wieder tun kann. In dem Gespräch ist von der Grazie die Rede, die der Marionette eignet, die der Mensch aber so selten erreicht, weil er immer weiß und will und, durch seine Absichten gebunden, kaum einmal dazu kommt, aus seiner Mitte ins Offene hinauszuleben. Die Marionette ist sich ihrer selbst nicht bewußt und kann nichts für sich wollen. Sie hat keine andere Mitte als die des natürlichen Gleichgewichts, so sind ihre Bewegungen bloße Bewegung und daher ganz rein. Im Zusammenhang dieser Gedanken erzählt dann der Klügere der beiden Gesprächspartner von einem Erlebnis. Er hat einmal gesehen, wie ein junger Mensch sich nach dem Baden niedersetzte und über seiner Gestalt die ganze Anmut lag, welche die bekannte griechische Statue des Dornausziehers atmet. Zufällig schaut aber der Beschäftigte auf, blickt in einen vom Verhängnis angebrachten Spiegel, wird sich der Situation bewußt, und im selben Augenblick ist der Zauber verschwunden. Er versucht, die reine Stellung wieder einzunehmen, aber es gelingt ihm nicht. Der Wunsch wird zum Zwang, aber je mehr er sich bemüht, desto mehr verquält er sich, und aus dem kleinen Begebnis erwächst ein Unheil, das ihm sein ganzes Menschentum verdirbt. Programme und Parolen sind solche Spiegel. Die Kunst soll sich vor ihnen hüten, um ihrer selbst, aber auch um unserer aller willen, damit wenigstens an einer Stelle in unserem verknechteten Leben Freiheit sei: dort, wo Menschen, deren Augen und Hände gesegnet sind, die Bilder des Lebens für uns sichtbar machen. | ||
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