Romano Guardini Online Konkordanz
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hat keiner ein wirkliches Interesse für eine Sache bei mir zu wecken gewußt. Verehrt habe ich keinen. Gern gehabt nur den für Französisch und Englisch in den Oberklassen; wahrscheinlich deshalb, weil er mich auf die Zusammenhänge zwischen der italienischen und französischen Sprache aufmerksam machte ... Der eigentliche Grund für die Fremdheit aber war doch wohl die Atmosphäre des Hauses, das uns nie ins Freie entließ.
Mein Vater lebte eigentlich überhaupt nicht mit uns. Er hatte uns sehr gern, und wir ihn auch, aber wir bekamen ihn kaum zu sehen. Sein Geschäft nahm ihn ganz in Anspruch, und er war oft auf Reisen. Zum Ferienaufenthalt auf dem Lande kam er nie mit; überhaupt erinnere ich mich nicht, daß er sich je eine Erholung gegönnt hätte.
Er war sehr begabt, hatte aber schon als Vierzehnjähriger die Schule verlassen und für den Unterhalt seiner Eltern sorgen müssen. Eigentlich hatte er Jurist und Volkswirtschafter werden wollen, mußte aber darauf verzichten. Nachdem er dann jahrelang versucht hatte, sich neben einer anstrengenden Berufstätigkeit weiterzubilden, muß er die Unmöglichkeit erkannt und alles aufgegeben haben. Die Wirkung war, daß er nie über geistige Dinge sprach; die Türen waren zugefallen. Auch von seinem inneren, persönlichen Leben erfuhr niemand etwas. Als er 1919 starb, war ich 34 Jahre alt; ich glaube aber, daß ich in dieser ganzen Zeit nicht mehr als zehn oder fünfzehn tiefergehende persönliche oder sachliche Gespräche mit ihm gehabt habe.
Sein Leben muß furchtbar einsam gewesen sein. Für ihn gab es im Grunde nur die Arbeit. Mich berührt es immer wieder, daß unter den wenigen Möbeln, die ich gut erhalten aus meinem Berliner Hause gerettet habe, sein Schreibtisch ist – der, an dem ich diese Erinnerungen schreibe. Wie oft habe ich ihn in seinem Büro daran sitzen sehen!
So hat auch er die geschlossene Welt unserer Kindheit und Jugend nicht ausgeweitet.

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