Romano Guardini Online Konkordanz
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87.
Brief vom 20.02.1923, Nieder-Holtorf.
Grüß Dich Gott, Josef!
Zunächst kund und zu wissen, daß es mir pro ratione temporis*730 gut geht. Ich wäre froh, wenn ich gleiches von euch wüßte. Schreib mirs einmal. Auch habe ich erfahren, daß die Friedel Straub*731 fort soll, da werdet ihr arg in Verlegenheit sein. Ich habe an Margarete Rischke auf die Burg geschrieben*732, ob sie Rat weiß. Tut es ebenfalls, damit Maria sich nicht so lange plagen muß.
Von der politischen Besessenheit wollen wir lieber nicht reden.*733 Wird euch auch das liebste sein.
Mit Berlin ist die Sache in Ordnung. Ich erwarte den Ruf jeden Tag. Es handelt sich nominell um eine Professur für Religionsphilosophie und Religionspsychologie.*734 Du kannst Dir denken, daß ich mit einiger Sorge daran denke. Erst habe ich mich entschieden gewehrt; dann sagte ich mir, es werde wohl meine Pflicht sein. Nun gehe ich mit Zuversicht*735 hin, aber mache mir keine Illusionen über die Schwierigkeiten. Vor allem sachliche. Was ist »Weltanschauungslehre«? Wen man fragt, keiner weiß es.*736 Ich denke, es ist einfach das, was das Mittelalter »die Wahrheit« nennt: das Bild der Welt und des Lebens, gesehen aus Gottes Offenbarung. Aber hier heißt es, in »Welt und Leben« zu Hause sein, und die Kraft der Gestaltung zu haben, denn unsere Dogmatiken und Philosophiebücher und Moralkodices, daß Gott erbarm! Ich denke, ich fange einfach an, und stelle hin, was ich weiß. Dann, nach etlichen Jahren,
730 Nach Maßgabe der Zeit.
731 Hauswirtschaftshelferin von Maria Knoepfler in Mooshausen.
732 Hauswirtschaftshelferin auf Burg Rothenfels am Main.
733 Frankreich und Belgien okkupierten Teile des Rheinlands aus unbedeutendem Anlaß, was zu passivem Widerstand führte. Guardinis Umzug nach Berlin im Frühjahr 1923 wurde schwierig: »Damals war das Rheinland besetzt, und mein kleiner Hausrat konnte daher nur auf Schmuggelwegen ins Reich gelangen.« (BL 39)
734 Am 11. April 1923 erfolgte die Berufung an die »preußisch-protestantische« Friedrich-Wilhelms-Universität Berlin (heute: Humboldt-Universität) durch den Staatssekretär und späteren Preußischen Kultusminister Carl Heinrich Becker. Guardini wurde offiziell Professor an der Katholischen Fakultät der Universität Breslau und ständiger Gast an der Friedrich-Wilhelms-Universität; der endgültige Titel seiner Professur lautete »Religionsphilosophie und katholische Weltanschauung«; sie dauerte vom SS 1923 bis WS 1938/39; Ende Januar 1939 erfolgte die Entlassung durch die Nationalsozialisten.
735 Ein Lieblingszitat Guardinis: en parrhesia (Phil 1,6); vgl. Br. 25, 61 und 75.
736 Später wird Guardini berichten, Max Scheler habe ihm in Bonn den Rat gegeben, tatsächlich »Welt anzuschauen« (BL 45).

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