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57. Brief vom 27.06.1915, Mainz. Lieber Josef Immer noch bin ich Dir Antwort auf Deinen lieben Brief vom - ich sehe, er ist ohne Datum, also auf den letzten, schuldig. Gelesen habe ich ihn schon mehrmals und freue mich herzlich seiner großen Liebe. Was die Beurteilung Deines »Briefes«*465 angeht, so mußt Du mir schon glauben, daß Du Dich geirrt hast. Ich habe ihn mit derselben »kritischen Ruhe« gelesen, wie stets ein literarisches Erzeugnis. Die Gegenüberstellungen, die er vollzieht, haben mich nicht getroffen. Seinen Inhalt anerkenne ich vollständig. Wenn also bei meiner Beurteilung etwas versagt hat, so war es lediglich mein literarisch-psychologisches Urteil. Und das ist - Du weißt es - stets unsicher, sowie es sich um den Gedanken- und Gemütskreis des Volkes handelt. Also wirf deshalb den Brief nicht fort, das wäre nicht recht. Betr. der Solidaritätsfrage hast Du sicherlich recht. Es liegt hier ein gewisser Mangel an innerer Selbständigkeit vor, der mir schon bei anderer Gelegenheit zu Bewußtsein kam. Daß aber eine Krisis in meinem Geistesleben im Gang ist, darin siehst Du richtig. Nur glaube ich nicht, daß sie mit dem Kriege zusammenhängt, sondern mit meinem Alter. Weißt Du, Lieber, ich spüre, wie ich Mann werde. Bin lang, bis in den Anfang der 20er Jahre hinein, Kind gewesen, und lang junger Mensch. Das heißt, ich habe ganz im Gedanken gelebt. Schon bisher waren Gegensätze und Inkonsequenzen genug da. Ich wundere mich eigentlich, daß Du sie nicht schon früher gesehen hast. Die ganze Gegensatzlehre war ja nichts als ein Versuch, eine theoretische Einheit für sie zu finden. Allein in einem siehst Du recht: Die Gegensätze blieben fast ganz innerhalb des Gedankens und darin lag ihre Einheitlichkeit. Jetzt aber kommt die Wirklichkeit allmählich an mich heran; im Gemüt, nicht nur als Begriff. Und da gehen halt tiefe Umwälzungen vor sich. Ganze Gedankenkomplexe, die früher mir lebendig und wert waren, werden farblos: Ich nenne Dir als Beispiel: Beuroner Kunst; die Liturgie bis zu einem gewissen Grade; und noch vieles andere. Du magst das auch daraus ersehen, daß mich das Problem der »Methode« sehr beschäftigt. Und das bedeutet in der Theologie ja 465 Vgl. Guardinis Kritik in Br. 56. | ||
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