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Die Daseinsgestalt Jesu

I.
Die Frage nach der Grundgestalt eines Daseins ist um so wichtiger, je stärker der Mensch, dem sie gilt, sich als eigener bezeugt, und je größeren Einfluß er auf die Geschichte ausgeübt hat. Die Person Jesu hatte für eineinhalb Jahrtausende der abendländischen Geschichte kanonische Bedeutung schlechthin, und hat sie für einen großen Teil der Menschheit heute noch. Auch dort aber, wo diese Bedeutung bestritten wird, steht die Bestreitung selbst unter ihrem Einfluß. Wenn man - um nur den repräsentativsten Gegner zu nennen - die Stellungnahme Friedrich Nietzsches genauer prüft, so zeigt sich, daß er in seinen Wertungen und Urteilen ebenso wie in der Gesamthaltung und den Einzelzügen des von ihm verkündeten Menschenbildes durchaus, wenn auch in der Form des Widerspruchs, von der Gestalt Christi bestimmt wird; wie denn der "Zarathustra" ein zum Teil genau konstruiertes Anti-Evangelium ist. Ähnliches gilt weithin für den Kampf gegen das Christliche; ja es darf die Frage gestellt werden, ob es im europäischen Raum überhaupt eine Bestimmung des Menschen gibt, die von Christus wirklich unabhängig wäre.
Bringen wir uns, um den Blick für das Eigentliche zu schärfen, zuerst einige andere geschichtlich bedeutsame Daseinsgestalten vor Augen.
Zuerst die jenes Mannes, der das abendländische Bild des vom Geiste her bestimmten Menschen so stark wie kaum einer sonst beeinflußt hat, des Sokrates. Er ist weder durch vornehme Geburt noch durch Reichtum hervorgehoben; wächst also ganz aus eigener Wurzel. Allerdings in einer Umgebung, die immer noch die stärkste Kulturmacht bildet, in Athen. Ein unbezwingliches Verlangen nach der Wahrheit treibt ihn. Er

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