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Die Liebe im Neuen Testament [1930]

I.
Liebesgebot und Liebesverheißung
Das Neue Testament spricht oft von der Liebe – und wenn wir es recht verstehen wollen, so spricht es immer von ihr. Einige Male aber mit besonderem Nachdruck. So vor allem dort, wo Jesus auf die Frage der Pharisäer nach dem ersten und größten Gebot antwortet: Mt 22,36ff: „Meister, welches Gebot ist das große im Gesetz? Er erwiderte ihm: Du sollst den Herrn, deinen Gott lieben mit deinem ganzen Herzen und mit deiner ganzen Seele, und mit deinem ganzen Gemüte. Dieses ist das große und das erste Gebot. Ein zweites ist ihm gleich: Du sollst deinen Nächsten lieben, wie dich selbst.“
Aus diesen Worten tritt uns die christliche Liebesidee mit großer Macht, aber wahrlich nicht leicht verständlich entgegen. Da heißt es: „Du sollst Gott, deinen Herrn lieben“ – aber kann man Liebe gebieten? Es wäre zu verstehen, wenn es hieße: „Du darfst lieben.“ Wenn verheißen würde: „Nachdem du erst im Gehorsam gedient hast, soll dir die Begegnung geschenkt werden, und daraus wird dir kommen, daß du Gott lieben und in Liebe für ihn leben könntest.“ Das wäre eine unendliche Verheißung, kostbarer als jede andere. Aber „du sollst“? Lieben heißt doch, im Innersten berührt sein von der Liebeswürdigkeit des anderen. Heißt doch, daß im Geheimnis der Begegnung sein Angesicht, seine personale Gestalt mit ihrer Wertfülle aufleuchte, hergewendet, sich schenkend und Gegengeschenk rufend. Das aber kommt, oder kommt nicht. Wenn es freilich kommt, dann wird es zum Gebot, zum höchsten Sollen, die Forderung zu erfüllen, die in dem so Geschenkten liegt. Innerhalb der gegebenen Liebe gibt es auch das Gebot der Liebe.


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