Romano Guardini Online Konkordanz
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Karl Neundörfer zum Gedächtnis
[1926]

Es ist einer jener Tage, um derentwillen ich ins Engadin gekommen war, voll von jenem unbegreiflichen Licht, das dem, der es versteht, Schlüssel wird zu sehr tiefen Dingen. Der zweite von solchen Tagen seit anderthalb Wochen; der erste war der dreizehnte August, an dem Karl Neundörfer weggenommen wurde. Vor mir liegt droben im hellen Glanz der Gletscher, und ich sehe die Stelle, wo es geschah.
Erst vor kurzem ist die Herausgeberschaft der "Schildgenossen" neugeordnet worden. Er sollte sie zusammen mit Josef Aussem, Rudolf Schwarz und mir führen. So ist es erlaubt und recht, wenn ich ihm hier ein "In Memoriam" spreche.
Von unserem siebenten Jahr an haben wir auf derselben Schulbank gesessen. Seit 1905 sind wir mit vollem Bewußtsein unseren Weg gemeinsam gegangen, und wir wußten nicht anders, als daß es so weiter geschehen werde. So wird keine objektive Würdigung von mir erwartet werden. Aber vielleicht weiß ich doch am besten, wer Karl Neundörfer gewesen ist.
Wir wollten uns hier im Fextal treffen, eine Stunde von Sils-Maria. Er kam am 9. August; ich erst am 12. Am Abend sahen wir uns kurz, als er gerade von einem Berggang zurückkam. Für den nächsten Tag hatte er sich vorgenommen, auf den Piz Led zu steigen, der zur Rechten den Fexgletscher abschließt. Zu Mittag wollte er wieder unten sein, aber er ist nicht wieder gekommen. Am Abend wurde man unruhig. Noch in der Dunkelheit ging die Rettungskolonne aus, fand ihn aber nicht. Am nächsten Morgen kam Einer und berichtete, er habe ihn in einer Spalte gefunden. Er muß den Weg verloren haben und so auf den Gletscher geraten sein. Erst am Nachmittag gelang die Bergung. In der kleinen Kapelle am Eingang des Tales haben wir ihn aufgebahrt.

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