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Tagebuch - Kanal an der Iller

Wir haben ein kleines Reich entdeckt, mein Freund und ich - und dabei liegt es ganz frei, ist sogar genau durchgerechnet und sorgsam überwacht. Trotzdem sind wir überzeugt, daß es verborgen ist, und man es entdecken muß, wie alle schönen Dinge.
Bei Mooshausen im schwäbischen Allgäu läuft die Iller, und von der haben sie einen Kanal abgezweigt, um das Elektrizitätswerk weiter drunten zu speisen. Durch ein gewaltiges Wehr, dessen Rauschen in der Nacht und wenn der Spiegel hochsteht, die ganze Stille füllt, wird dem Kanal das Wasser zugespart. Er läuft der Iller entlang, und es ist weiter nichts über ihn zu sagen, als daß er schnurgerade Ränder hat, die hin und wieder weite Bogen machen; daß er sicherlich sehr gut und nützlich gebaut ist und im übrigen dem schönen Wildfluß sein Wasser nimmt, wodurch der manchmal ganz verdurstet. Aber so ist ja das Schicksal der schönen Natur, und die es tiefer fühlen, sind übel daran; denn nicht nur, daß sie es nicht hindern können - sie müssen sich allmählich abgewöhnen, darüber zu sprechen, weil das, was ihnen ein immer neuer Schmerz ist, den Meisten ganz in der Ordnung dünkt, und also das Reden darüber sie nur langweilt.
Also der Kanal ist ordentlich gebaut und insofern ist er, was Kanäle auch sonst sind, nützlich und langweilig. An einer Stelle aber wird es anders mit ihm, und da beginnt unser Reich. Zwar läuft er auch da in genau berechnetem Bett, aber er ist nicht mehr langweilig, sondern schön.
Rechts und links fassen ihn leicht ansteigende Böschungen ein, von üppigem Grün und Blumenwuchs bestanden. Die Böschungen haben breite, flache Scheitel, und fallen auf beiden Seiten tief ab, erst in Wiesen, dann in hohen Wald. Der Wald zur Rechten des Kanals hat schon früher hier aufgehört;

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