Romano Guardini Online Konkordanz
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29.
Brief vom 08.07.1913, Freiburg.
Freiburg 8.7.13.
Lieber Josef!
Vielen Dank für den Brief; danke Deinem Mütterlein in meinem Namen. Nun ists doch wenigstens ein anderer Ton und eine andere Stimmung, und das freut mich. Wir wollen recht zusammenhalten, nicht wahr! Dann geht die Krisis auch vorbei.
Ein Ereignis der letzten Wochen*220 - ein andermal erzähle ich davon, brachte mir den Gegensatz zwischen dem Wechsel, der Vergänglichkeit, Verkettung, Nichtigkeit, Unfreiheit des äußeren Lebens und unserem Verlangen nach dem Ewigen, nach Freiheit, unverrückbarer Sicherheit, nach unendlicher Fülle und unverlierbarem Wert so recht zu Bewußtsein. Daraus kamen auch jene Gedanken über die Unzerstörbarkeit unseres in Gott verwurzelten Wesens. Ich denke, in solchen Stürmen - erinnerst Du Dich, was Du über die Bäume an der Ecke des Waldes sagtest? - da schlägt unser Geist die Wurzeln in Gott, bis mens nostra fixa et firma et immobiliter est radicata.*221 -
Nun hab ich auch den Mut, Dir wieder etwas zu schicken. Ein Bändchen Dichtungen der Romantik.*222 Sind feine auserlesene Sachen zum Teil. Lies einmal besonders die geistlichen Gedichte von Novalis*223. Ich habe dabei besonders an Dich denken müssen, an diese Tage. Die paar pessimistischen Sachen, von dem armen Lenau*224 z.B. werden Dir die Freude am Ganzen nicht verderben.

220 Die mütterliche Freundin Josephine Schleußner aus Mainz war am 15. Juni 1913 gestorben.
221 Kirchengebet: bis »unser Geist fest und stark und unbeweglich verwurzelt ist«.
222 Der Zauberbrunnen. Die Lieder der deutschen Romantik, ausgewählt von Hermann Hesse, Weimar 1913, Gustav Kiepenheuer Verlag; BM, mit Widmung: »Meinem lieben Josef, als Gruß, - zur Erheiterung. R. 8. Juli 1913.« -Eine zeitgleiche Widmung findet sich in: Johann Tauler's Predigten, Zweyter Theil, Frankfurt 1826, BM mit Widmung: »Meinem lieben Josef in herzlicher Freundschaft. Juli 1913. R.« Der dritte Teil derselben Predigten trägt nur den Stempel: R. A. Guardini (BM).
223 Novalis (Friedrich von Hardenberg) (1772, Oberwiederstedt/Harz, bis 1801, Weißenfels), Dichter und Denker der deutschen Frühromantik. Werke: Hymnen an die Nacht, 1800; Dialoge, 1802; Geistliche Lieder, 1802; Heinrich von Ofterdingen, 1802; Die Lehrlinge zu Sais, 1802; Die Christenheit oder Europa, 1826.
224 Lenau, Nikolaus (1802-1850), österreichischer Dichter, stand mit Wiener Schriftstellern (F. Grillparzer, F. Raimund u.a.) und der Schwäbischen Schule (G. Schwab, L. Uhland u.a.) in Kontakt; nach einem Schlaganfall 1844 bis zu seinem Tod in einer Heilanstalt. Werke: romantische Lyrik (Schilflieder, Waldlieder u.a.) einige Versepen, u.a. Die Albigenser, Savonarola sowie die Fragment gebliebenen Faust und Don Juan, in denen seine Affinität zu den Freiheitsbewegungen des Vormärz deutlich wird.

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